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Der Liebeswunsch

Der Liebeswunsch

Titel: Der Liebeswunsch
Autoren: Dieter Wellershoff
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Seiten auf sie drückte. Etwas Unsichtbares umhüllte die
     Dinge, ließ die Abstände wachsen und verwirrte sie. Der Koffer! dachte sie. Sie hatte das Gefühl, jemand flüstere ihr hilfreich
     dieses Wort zu. Plötzlich war eine Schneise durch das fremde Haus geschlagen. Sie lief nach oben in das Gästezimmer und packte
     die restlichen Sachen aus ihrem zweiten Koffer aus und räumte sie in den Schrank.
    Der Nachmittag dehnte sich endlos. Sie war im Garten gewesen, hatte sich in der Küche etwas zu essen gemacht, hatte danach
     die Plattensammlung und den Bücherschrank angeschaut und lange lesend in einem der Sessel des großenWohnraumes gesessen. Die Stille im Haus schien sich zu vertiefen. Sie drang auch in das Buch ein, strahlte ihr aus den Seiten
     entgegen. Irgendwann schreckte sie aus leerer Versunkenheit hoch. Es war noch heller Tag, aber das Licht hatte sich verändert.
     Es war weicher geworden, verhaltener, als flösse es durch einen zart-grauen Filter und kündige eine Verwandlung an. Sie stand
     auf, um die Haustür abzuschließen, und blickte durch das schmale vergitterte Seitenfenster lange in die Einfahrt mit dem dunklen
     Laub der abgeblühten Pfingstrosenbüsche zu beiden Seiten. Nichts regte sich. Das Grundstück lag am Ende einer Stichstraße,
     die von zugewucherten alten Gärten umgeben war. Wie den blassen Widerschein des mittäglichen Bildes sah sie das Taxi davonfahren
     und gleich danach Paul und Marlene, die entspannt nebeneinander im Flugzeug saßen und von einer Stewardeß bedient wurden.
     Sie fühlte sich schrumpfen. Vier Wochen war sie nun allein hier in diesem Haus, das zwei Menschen gehörte, die viel stärker
     waren als sie. Waren es die beiden, gegen die sie kämpfte? Sie ging zurück in den Wohnraum und schloß die Terrassentüren.
     Mehrere Amseln flogen vom Rasen auf. Wenn jemand aus den Sträuchern im hinteren Teil des Grundstücks hervorträte, würde sie
     schreien.
     
    Bevor es dunkel wurde, ließ sie die stählernen Rolläden im Erdgeschoß herunter und arretierte sie, schaltete Außenbeleuchtung
     und Alarmanlage ein. Den ganzen Abend saß sie vor dem Fernseher, stand nur einmal auf, um sich einen Tee zu kochen. Nach dem
     Ausschalten konnte sie sich lange nicht entschließen, schlafen zu gehen.
    Etwas leuchtend Blaues wölbte sich in ihren Schlaf: der Vorhang aus schwerer blauer Seide, durchdrungen von hellem Sonnenlicht. Sie stand auf und zog ihn beiseite, um in den Garten zu blicken, der noch feucht vom Morgentau war. Heute
     werde ich mich einleben, dachte sie.
    Nachdem sie gebadet und gefrühstückt hatte, trug sie einen kleinen Gartentisch und einen Klappstuhl zu einem schattigen Platz
     im hinteren Teil des Gartens und versuchte, in ihre Magisterarbeit hineinzukommen. Sie las die zuletzt geschriebenen Seiten
     und ihre noch unverarbeiteten Notizen, blätterte dann wieder in den Büchern des Autors, über den sie jetzt schreiben mußte,
     aber es kam keine Spannung in ihr auf. Sie las und blätterte weiter, las und vergaß alles, obwohl sie noch weiterlas. Sie
     hatte nichts Eigenes, keinen Kern, der die Sätze zusammenhielt. Wenn sie den Kopf hob, schweifte ihr Blick zu den Sträuchern,
     Blumenbeeten und zum Haus hinüber. Das alles war stärker als sie. Sie konnte nichts dagegen aufbieten.
    Als im Haus das Telefon klingelte, sprang sie auf, als habe sie gewartet. Das mußte er sein! Er machte sein Versprechen wahr,
     hatte sicher gerade eine Verhandlungspause und rief sie vom Gericht aus an. »Hallo?« sagte sie. »Bist du es, Anja?« fragte
     eine Stimme. Es war die Studentin, die ihr den Job vermittelt hatte und sich erkundigte, wie es ihr ginge, um dann lange von
     der Klausur zu erzählen, die sie gestern geschrieben hatte. Sie stand neben dem Telefontisch, lauschte der Stimme, die mit
     gewohnter Munterkeit redete, und fühlte sich enttäuscht.
    Am frühen Nachmittag hatte sie ihre Arbeit noch einmal durchgelesen und gefunden, daß sie nichts tauge. Sie empfand nichts
     außer einer gewissen Erleichterung. Mechanisch schob sie die Blätter zusammen, trug sie ins Haus und verschloß sie in einem
     ihrer Koffer. Nun konnte sie wiedernach unten gehen. Stunden später kam der nicht mehr erwartete Anruf. Sie saß in sich versunken in einem der tiefen Sessel
     des Wohnraumes und stand erst nach mehrfachem Läuten schwerfällig auf.
    Er kam am Abend. Sie sah ihn in der Einfahrt halten und aus dem Wagen steigen, sah, wie er sich noch einmal in den Wagen
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