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Der Liebestempel

Der Liebestempel

Titel: Der Liebestempel
Autoren: Carter Brown
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kann?«
    »Das bezweifle ich«, sagte ich.
»Jemand hat ungefähr anderthalb Kilometer von hier entfernt eine Leiche aus dem
See gezogen und sie als Mrs. Magnusons Ehemann identifiziert.«
    »Hank?« Er starrte mich ein
paar Sekunden lang ungläubig an und schüttelte dann bedächtig den Kopf. »Ist
das die Möglichkeit?«
    »Offenbar«, knurrte ich.
»Deshalb bin ich hier.«
    »Und die ganze Zeit über dachte
ich, er triebe sich irgendwo am anderen Ende der Welt herum.« Erneut schüttelte
er den Kopf. »Das wird für Gail ein Mordsschock sein.«
    »Standen sie und ihr Mann gut
miteinander?«
    »Gut?« Er lachte. »Sie hat seit
über einem Jahr überhaupt nichts mehr von ihm gehört. Er lief ihr davon,
nachdem... Na ja, ich glaube, die Geschichte sollten Sie eigentlich von ihr
selber hören. Nicht? Den Schock wird sie nur kriegen, wenn sie erfährt, daß er
den Nerv gehabt hat, hierherzukommen, um zu sterben.« Er öffnete die Tür ein
wenig weiter. »Ich glaube, Sie kommen am besten rein, Lieutenant.«
    Ich folgte ihm durch einen
breiten Korridor ins Wohnzimmer, wo er mit einer vagen Geste auf den
nächststehenden Sessel wies. »Machen Sie es sich bequem. Ich werde Gail
Bescheid sagen und sie bitten, herunterzukommen.«
    »Sehr gut.« Ich nickte.
    »Ich kann es nach wie vor nicht
fassen, daß Hank hierhergekommen sein soll — nur um zu sterben.« Bryant zögerte
einen Augenblick. »Wie ist er denn überhaupt ums Leben gekommen, Lieutenant?
War es ein Unfall oder Selbstmord?«
    »Er wurde ermordet«, sagte ich.
    »Ja?« Er blinzelte heftig. »Na,
ich hole jetzt besser Gail.«
    Er verließ das Zimmer mit einem
Gesichtsausdruck, als ob man ihm soeben zugemutet hätte, die Grabrede für einen
völlig Fremden zu halten. Ich ließ mich im Sessel nieder und blickte auf die
gerahmte Picasso-Reproduktion an der Wand über dem großen Kamin. Nach ein paar
Sekunden hatte ich das unbehagliche Gefühl, beobachtet zu werden. Als ich den
Kopf wandte, sah ich ein kleines Mädchen, das mit ernsthaftem Gesicht hinter
dem Türpfosten hervor zu mir herüberspähte. Große graue Augen betrachteten mich
ein paar Sekunden lang prüfend, bevor sich die Kleine ins Wohnzimmer schob. Ihr
knöchellanges Nachthemd war mit blauen und roten Karos bedruckt, und das schöne
schwarze Haar hing ihr über die Schultern. Sie mochte ungefähr zehn Jahre alt
sein.
    »Hallo!« sagte ich und lächelte
ihr aufmunternd zu.
    »Ich bin Samantha«, sagte sie
mit kristallklarer Stimme. »Ich habe draußen vor der Tür gelauscht, als Sie mit
Onkel Paul gesprochen haben.« Sie trat ein wenig näher, und ihre dunkelgrauen
Augen betrachteten mich nach wie vor eindringlich. »Ich habe gehört, wie Sie
über meinen Daddy gesprochen haben. Er ist tot, nicht wahr?«
    »Es tut mir leid, Samantha.«
Das war trivial und dürftig, aber was, zum Kuckuck, hätte ich sonst sagen
sollen?
    »Warum tut Ihnen das leid ?« Sie zuckte die dünnen Schultern unter dem
Baumwollnachthemd. »Wir müssen alle einmal sterben. Man braucht keine Angst davor
zu haben, wenn man daran denkt. Nicht wahr?« Ein Ausdruck des Mitleids trat in
ihre Augen. »Haben Sie kein Licht, das Sie führt?«
    »Ein Licht, das mich führt?«
murmelte ich.
    »Meine Mommy hat ein Licht, das sie führt.« Die klare Kinderstimme war gelassen und völlig
vertrauensvoll. »Und ich auch. Mommy hat alles von
Kendall gelernt, und ich habe alles von ihr gehört.« Sie nickte ernsthaft. »Man
muß nur wissen, daß die Liebe nie aufhört. Verstehen Sie? Leben und Tod sind
ein Teil derselben Sache, deshalb gehört die Liebe in den Sarg und ins Grab,
genauso wie sie auch sonst überall hingehört.« Sie machte eine pathetische
Geste mit einer Hand. »Ins Haus oder in den See oder«, ihre Stimme schwankte,
»auch sogar auf den Grund des Sees.«
    Sie starrte mich an, ohne mich
wirklich zu sehen, während ihr zwei große Tränen langsam übers Gesicht rannen.
Dann drehte sie sich schnell um und rannte aus dem Zimmer. Die Zeit schien
vorübergehend stillzustehen, während ich verwirrt zur Tür hinüberstarrte. Aber
kein plötzlicher Lichtstrahl, der mich führen konnte, erschien dort, um das
Dilemma eines zehnjährigen kleinen Mädchens zu lösen, das eben entdeckt hatte,
daß Worte kein Heilmittel gegen Schmerz sind. Dann hörte ich Schritte eine
Treppe herabkommen, und ein paar Sekunden später kehrte Bryant, begleitet von
einer Frau, ins Zimmer zurück.
    Die Witwe Magnuson war groß und dunkelhaarig, ihr Haar, in der Mitte
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