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Der letzte Tag der Unschuld

Der letzte Tag der Unschuld

Titel: Der letzte Tag der Unschuld
Autoren: Edney Silvestre
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Wir sind zu dritt. Ich bin der Jüngste. Júlia ist die Mittlere. Sie lebt in Brasília und ist Zahnärztin. Und Paulo …«
    »Paulo?«
    »Paulo Roberto.«
    »Paulo Roberto? Eduardo hat einen seiner Söhne Paulo Roberto genannt?«
    »Meinen ältesten Bruder. Er ist Arzt und lebt in den Vereinigten Staaten. In Cleveland. Er ist Kardiologe. Er war nicht hier, als unser Vater den Herzinfarkt erlitt.«
    »Sieht er Eduardo ähnlich?«
    »Ich sehe ihm ähnlicher. Paulo kommt mehr nach seiner Mutter. Er ist dunkler, mehr wie ein Indio. Seine Mutter ist aus dem Süden.«
    »Ihre Schwester und Sie …«
    »Wir sind seine Kinder aus zweiter Ehe. Paulo hat immer seine Ferien bei uns verbracht. Erst mit vierzehn ist er zu uns gezogen. Das war in Uruguaiana in Rio Grande do Sul. Da arbeitete unser Vater an irgendeinem Wasserkraftwerk an der Grenze, an welchem, weiß ich nicht mehr.«
    »Wie war er? Wie war Ihr Vater? Wie war Eduardo als Erwachsener?«
    »Mager. Hochgewachsen. Immer gut gekleidet.«
    »Und wie war er vom Wesen her? Sie verstehen doch, dass ich neugierig bin, oder? Als wir uns kannten, waren wir noch Kinder, und …«
    »Er war ein stiller Mensch. Keiner, der viel lachte, oh nein. Er stand immer früh auf, dann ging er los, um Brot, Milch und die Zeitung zu kaufen. Er hat viel gelesen. Zeitungen, Bücher, Zeitschriften. Und er hat geschrieben. Nachts, wenn er dachte, dass wir schliefen, hat er Musik gehört. Opern mochte er besonders.«
    » Tosca ? Hat er oft Tosca gehört?«
    »Das weiß ich nicht. Für ein Kind klingen alle Opern gleich, nicht wahr? Er hat sich wirklich bemüht, uns für Opern und klassische Musik zu begeistern. Aber ich habe nie Geschmack daran gefunden. Júlia auch nicht. Nur Paulo. Paulo liest auch gern. Comics, Zeitungen, Bücher, er hat schon immer alles gelesen, was ihm in die Finger fiel. So wie unser Vater. Sicher macht er es in den USA immer noch so.«
    »Sehen Sie sich nicht?«
    »Ich habe ihn nie dort besucht. Ich habe eine kleine Tochter, und Sie wissen ja, wie schwierig es ist, mit Kindern zu reisen. Und jetzt, seit dem elften September, ist es noch schwieriger geworden, mit dieser Terrorismuspanik der Amis, den Visabeschränkungen und alldem. Außerdem scheint Cleveland eine sehr kalte Stadt zu sein. Und ich mag die Kälte nicht. Mir langt der Winter hier in São Paulo. Und Paulo und ich stehen uns nicht sehr nahe. Sind Sie auch Ingenieur?«
    »Soziologe.«
    »Na so was. Und was machen Sie so als Soziologe?«
    »Mein neuester Auftrag führt mich nach Osttimor. Wir bauen dort Schulen. Ich arbeite für eine Agentur, die von der UNO unterstützt wird. Einige brasilianische Unternehmen haben sich an der Ausschreibung für die Bauaufträge beteiligt. Deshalb war ich hier in São Paulo.«
    »Wenn Sie für die UNO arbeiten, leben Sie doch sicher in New York.«
    »Die Agentur, für die ich arbeite, sitzt in Lausanne. Dort habe ich eine Wohnung, eine Art Basislager. Aber ich lebe nicht in der Schweiz. Eigentlich bin ich nirgendwo zu Hause. Ich lebe da, wo ich arbeite. Im Augenblick ist das Timor. Ich habe schon in Guatemala, Mosambik, Algerien, Bosnien und Sri Lanka gelebt, mal hier, mal da …«
    »Haben Sie Kinder?«
    »Zwei. Einer meiner Söhne lebt in Schweden bei seiner Mutter. Joseph. Der Jüngere. Er weiß noch nicht, ob er Architektur oder lieber Biologie studieren soll. Er ist erst siebzehn. Der andere ist in Indien. Er ist Webdesigner. Keiner von beiden sieht mir ähnlich. Besser für sie. Ihre Mutter ist sehr hübsch. Sie ist Schwedin.«
    »Wie heißt er?«
    »Wer?«
    »Der ältere.«
    Pause.
    »Edward«, sagte er schließlich.
    »Eduardo? Wie mein Vater?«
    »Ja. Wie Ihr Vater.«
    Stille an beiden Enden der Leitung. Keiner der beiden einander unbekannten Männer wusste, wie er das Gespräch fortführen sollte, das so distanziert und so intim zugleich war. Paulo, der immer noch auf dem Bett saß, sah auf die Uhr. Sicher wartete unten schon das Taxi auf ihn. Hinter der doppelt verglasten Fensterscheibe, die alle Geräusche von draußen ausschloss, sah er vom achtundzwanzigsten Stock des an der Alameda Santos gelegenen Hotels aus in den milchigen Sommerhimmel über den riesigen Gebäuden im Stadtzentrum von São Paulo. Dann verschwamm die Stadtlandschaft, und er merkte, dass er Tränen in den Augen hatte.
    »Es ist so lange her …«, murmelte er.
    »Wie bitte? Was haben Sie gesagt?«, fragte Eduardos Sohn.
    »Einundvierzig Jahre …«, murmelte er und trocknete sich die
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