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Der letzte Tag der Unschuld

Der letzte Tag der Unschuld

Titel: Der letzte Tag der Unschuld
Autoren: Edney Silvestre
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Ubiratan sein Versteckspiel aufgeben müssen, sich ihnen stellen und das Fahrrad zurückgeben. Die Lüge verschaffte ihm ein paar Stunden Schonfrist. Aber sie half nicht gegen Eduardos wachsende Beklemmung. Was ihn umtrieb, war nicht eigentlich Sorge. Nicht die Sorge um das Fahrrad oder um das Geld, das es wert war oder das eine mögliche Reparatur kosten würde, nicht die Sorge darum, dass seine Eltern wütend oder enttäuscht sein würden. Das war es alles nicht. Es war … Diese Sache. Schon wieder. Schon wieder jenes Seltsame, Besorgniserregende, das kein Gesicht und keinen Namen hatte und das ihn manchmal überkam. Was war das bloß?
    Sie vereinbarten, nach dem Mittagessen ins Altersheim zurückzukehren, dann trennten sie sich. Paulo ging weiter, ohne zu wissen, wohin. Der Hunger nagte immer stärker an ihm, aber nach Hause wollte er nicht. Ziellos lief er drauflos und pfiff, ohne es zu merken, eine der Melodien, die er im Hotel Wizoreck gehört hatte.
    Ein amerikanischer Wagen fuhr an ihm vorbei. Er war grün und hatte ein weißes Verdeck. Am Steuer saß der Bürgermeister, neben ihm eine magere Frau, deren linker Arm verbunden war. Auf der Rückbank saß ein blondes junges Mädchen mit eng beieinander stehenden Augen. Der Wagen bog in die Landstraße ein, die in die Hauptstadt führte.
    Der Schmerz saß hartnäckig in seiner Brust. Er bedrückte ihn. Ein Schmerz, der sich in ihn bohrte. Ein seltsamer Schmerz, als ob ihm jemand eine scharfe Lanze in die Eingeweide stieße, die ihn durchdrang und zugleich alles in ihm zusammenpresste. Er verstand das nicht. Und er wurde es einfach nicht los, dieses … Etwas. Diese Sache.
    Er beeilte sich, nach Hause zu kommen.
    War es Sorge? Worum? Woher kam sie? Was verursachte sie? Was war das … dieses Etwas, das ihm das Atmen schwer machte und eine kalte Welle von Angst über ihn hereinschwappen ließ, die nicht eigentlich Angst war, dieses Etwas, das sein Herz heftig in der Brust schlagen ließ und … Wie nannte man das? Es musste doch einen Namen haben? Warum fühlte er es? Warum machte ihn dieses Etwas so unruhig? Warum ließ es ihn nicht los?
    Den Rest des Weges rannte er.
    Als er schwitzend und keuchend die Haustür öffnete, umfing ihn ein Gefühl von Sicherheit. Nach und nach beruhigte sich sein Atem. Er fühlte sich … fühlte sich … beschützt. Geborgen. Alles war wie immer: die nach Politur duftenden Möbel, die wenigen Bilder, Reproduktionen berühmter Gemälde, die Porzellanfiguren, die Häkeldeckchen, die Farne, Veilchen und Begonien in den gleichen Blumentöpfen wie immer, die an derselben Stelle standen wie letzte Woche und die Woche davor, da wo sie vorgestern und gestern gestanden hatten und auch morgen noch stehen würden.
    Er trat ein, schloss leise die Tür hinter sich und lehnte sich dagegen. Das gleichmäßige Rattern der Nähmaschine drang an sein Ohr und zeigte ihm, dass seine Mutter arbeitete, wie sie es sechs Tage in der Woche morgens und nachmittags tat, bis sein Vater von seinem Büro im Bahnhof nach Hause kam. Vertraute Geräusche, an die er sich so sehr gewöhnt hatte, dass er sie gar nicht mehr wahrnahm, die ihn aber jetzt umgaben und mit einem Gefühl der Erleichterung und tiefer Dankbarkeit erfüllten.
    Er wollte gerade rufen, dass er zu Hause sei, als das Rattern der Nähmaschine abbrach. Sie hatte ihn hereinkommen hören. Und jetzt rief sie nach ihm. Es kam ihm vor, als klänge ihre Stimme anders als sonst, verschnupft, als hätte sie geweint. Er ging ins Nähzimmer, wo sie hinter ihrer Singer-Nähmaschine saß. Ihre Augen waren rot und geschwollen. Der Vater saß neben ihr, sehr ernst, noch in Arbeitskleidung. Er hielt ein Telegramm in der Hand.
    Paulo erfuhr nie, wer den Schlachthof gekauft hatte oder wieso sein Vater zum Chef eines Warenlagers in einem Ministerium in Rio de Janeiro ernannt worden war. Auch Antonio wusste es nicht, aber es war ihm egal. Ein Leben in Rio, selbst in einem Vorort fern der Copacabana, war mehr, als er sich je hätte träumen lassen. Er würde in die Stadt ziehen, in der es die nacktesten, schärfsten und braungebranntesten Weiber von ganz Brasilien gab – was kümmerte es ihn da, wieso sie hinzogen und wem sie es zu verdanken hatten?
    Sie hatten den nächsten Tag, einen Feiertag, zum Packen. Das war schnell getan: Ihre Möbel und Habseligkeiten passten in einen Lkw. Am Samstag bestiegen sie den Bus und verließen die Stadt, in der Paulo geboren und aufgewachsen war und in die er nie mehr
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