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Der letzte Tag der Unschuld

Der letzte Tag der Unschuld

Titel: Der letzte Tag der Unschuld
Autoren: Edney Silvestre
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nicht mal der Alte.«
    »Ruhig, Paulo. Beruhig dich doch.«
    »Der Alte hat uns in diesem Puff eingeschlossen und ist abgehauen. Er ist losgezogen, um irgendwas zu suchen, und hat uns dort sitzen lassen! Eingeschlossen bei den Nutten. Hast du gesehen, wie sie über uns gelacht haben? Ich glaube nicht, dass sie so über Antonio lachen würden. Oder über meinen Vater. Ich bin der letzte Dreck. Und ich hab’s satt, der letzte Dreck zu sein! Ich will nicht für den Rest meines Lebens der letzte Dreck sein!«
    »Das bist du nicht. Und ich respektiere dich. Ich bin dein Freund.«
    »Und was hab ich davon?«
    »Eine Menge.«
    »Was denn?«
    »Einen Freund, der alles Mögliche für dich tut.«
    »Was denn? Hä? Was tust du schon für mich, Eduardo?«
    »Na ja, alles Mögliche. Wie gerade eben, zum Beispiel.«
    »Gerade eben was?«
    »Na, dass ich dir jetzt sage, dass du kein Dreck bist.«
    »Na und?«
    »Du bist kein Dreck.«
    »Und warum nicht?«
    »Weil du mein Freund bist.«
    »Und weiter?«
    »Wenn ich einen Bruder hätte, würde ich mir wünschen, dass du es bist.«
    Paulo senkte schweigend den Kopf. Er schämte sich. Er hätte sich gerne entschuldigt und Eduardo die Hand gedrückt, aber er tat weder das eine noch das andere.
    »Ich würde mir auch wünschen …«, sagte er und brach ab.
    Beide waren verlegen.
    »Hast du Hunger?«, fragte Eduardo schließlich nach einer Pause, in der keiner wusste, was er sagen sollte. »Ich habe zwei Cruzeiros dabei, ich könnte uns zwei Empanadas kaufen.«
    »Nein«, log Paulo. »Ich hab keinen Hunger.«
    »Also …«
    »Also was?«
    »Also …« Eduardo suchte nach einem unverfänglichen Gesprächsthema. »Mein Fahrrad.«
    »Dein Fahrrad. Der Alte hat es nicht zurückgebracht.«
    »Nein.«
    »Weiß dein Vater das? Weiß deine Mutter, dass dein Fahrrad weg ist?«
    »Ich habe behauptet, ich hätte es dir geliehen.«
    »Sollen wir ins Altersheim gehen und es holen?«
    »Ja, das machen wir. Der Alte muss uns erklären, warum er das gemacht hat.«
    Ubiratan saß nicht an dem Tisch unter dem Baum, dessen Äste über die Mauer ragten, und er war auch sonst nirgendwo im Hof zu finden. Im Speisesaal war er auch nicht. Er war nicht in der Toilette, nicht im Schlafraum und nicht im Korridor. Nicht im Gemüsegarten hinter dem Haus und auch nicht in der Küche, der Kapelle oder dem Besucherzimmer. Sie suchten das ganze Altersheim ab, ohne auch nur eine Spur von ihm zu finden. Und das Fahrrad war ebenfalls verschwunden. Diejenigen Heimbewohner, die noch einigermaßen bei klarem Verstand waren, wussten nichts über Ubiratans Verbleib. Sie hatten ihn seit dem Vortag nicht gesehen und schworen, er habe nicht im Altersheim geschlafen. Paulo glaubte ihnen nicht. Er vermutete, dass der Alte einer direkten Konfrontation mit ihnen auswich; wahrscheinlich schämte er sich für den gestrigen Verrat. Bevor sie gingen, versuchten sie noch, ein paar Nonnen eine Auskunft zu entlocken, doch vergeblich.
    Als sie gingen, war Eduardo unruhiger als Paulo. Er sorgte sich vor allem um den Verbleib seines schwarzen Markenrads. Vielleicht hatte Ubiratan es irgendwo abgestellt und dann vergessen. Und wenn ihm nicht mehr einfiel, wo? Würde es noch zu reparieren sein, wenn er es kaputtgefahren hatte? Eine Reparatur kostete Geld, und Ubiratan hatte keines. Eduardo auch nicht. Und wenn es gestohlen worden war? Wie sollte er seinen Eltern erklären, dass das kostbare englische Fahrrad, das sie aus zweiter Hand, aber so gut wie neu erstanden hatten, das Fahrrad, das sie ihm zur Belohnung für sein gutes Übergangszeugnis auf den Gymnasialzweig der Städtischen Schule Beatriz Maria Marques Torres geschenkt hatten, das Fahrrad, das sie sich vom Munde abgespart hatten, einfach verschwunden war? Mir nichts, dir nichts? Wenn er erzählte, dass er es einem alten Mann aus dem Altersheim geliehen hatte, würde er es nur noch schlimmer machen. Und wenn er erzählte, dass der alte Mann aus dem Altersheim mit seinem Fahrrad irgendwohin gefahren war und dass er, Eduardo, keine Ahnung hatte, wohin er gefahren war und wenn er darüber hinaus noch erzählte, dass der Alte, Paulo und er in einem Fall ermittelt hatten, in dem der Täter schon gestanden hatte, dann könnte er sich gleich begraben lassen.
    Paulo schlug Eduardo vor, einfach zu behaupten, dass er, Paulo, das Fahrrad für Botendienste für den Schlachthof gebraucht und versprochen habe, es bis zum Abend zurückzubringen. Das war eine gute Lüge. Früher oder später würde
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