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Der letzte Tag der Unschuld

Der letzte Tag der Unschuld

Titel: Der letzte Tag der Unschuld
Autoren: Edney Silvestre
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sichergehen, dass …«
    »Dass was?«
    »Wie war noch mal Ihr Name?«
    »Paulo Antunes.«
    »Paulo Roberto Antunes?«
    »Ja. Paulo Roberto Antunes.«
    »Dann brauche ich Ihre Anschrift.«
    »Wozu?«
    »Um Ihnen diesen Umschlag zu schicken.«
    »Was für einen Umschlag?«
    »Einen, den wir unter den Papieren meines Vaters gefunden haben.«
    »Und warum wollen Sie den an mich schicken?«
    »Weil oben auf dem Umschlag ›Für Paulo Roberto Antunes‹ steht und darunter ›Von Eduardo José Massaranni‹. Es ist ein brauner DIN A4-Umschlag.«
    »Und was steckt darin?«
    »Ein paar maschinengeschriebene Seiten. Als meine Mutter den Umschlag fand, war er zugeklebt. Bitte verzeihen Sie, dass wir ihn geöffnet haben, aber wir hatten Ihren Namen nie zuvor gehört und mussten ein Inventar von Papas Besitz erstellen. Der Umschlag hätte wichtige Dokumente enthalten können. Es ist auch ein handschriftlicher Brief dabei, mit einer Büroklammer angehängt.«
    »Haben Sie ihn gelesen?«
    »Ich schicke Ihnen den Umschlag per Post zu.«
    »Schicken Sie ihn bitte per Express. Bitte notieren Sie sich meine Anschrift.«
    »Ich habe Papier und Bleistift zur Hand. Sie können loslegen.«

14
    Lausanne
    Der Brief war nicht datiert. Er war von Hand mit blauer Tinte auf ein Karoblatt geschrieben, in der sauberen, sorgfältigen Handschrift, die Paulo so gut kannte. Die Büroklammer, mit der die Notiz an den anderen Seiten befestigt war, war verrostet und hatte einen Abdruck hinterlassen, der aussah wie ein Labyrinth.
    Lieber Paulo,
    gestern ist mein Sohn zwölf geworden. Mein ältester Sohn, aus meiner ersten Ehe. Er sieht mir kein bisschen ähnlich, sondern ist dunkelhäutig wie seine Mutter. Fast so dunkelhäutig wie Du. Ich habe ihn nach Dir benannt.
    Als wir uns das letzte Mal gesehen haben, waren wir zwölf. Vielleicht musste ich deshalb an Dich denken. Noch mehr als sonst. Denn ich denke viel an Dich. Nicht immer aus gutem Anlass. Oft macht mir die Erinnerung Angst. Bis heute. Vierundzwanzig Jahre sind vergangen, seit wir sie am See gefunden haben, und bis heute macht sie mir Angst. Vierundzwanzig Jahre sind vergangen, seit ich Dich zuletzt gesehen habe, seit wir uns zuletzt gesehen haben.
    Manchmal träume ich von ihr. Dann bin ich wie zerschlagen, wenn ich aufwache. Passiert Dir das auch? Denkst Du noch an sie? Macht sie Dir ebenso viel Angst wie mir? Erinnerst Du Dich an jene Tage im April?
    Irgendwo habe ich gelesen, dass Du während der Militärdiktatur verhaftet wurdest und dann nach Chile geflohen bist. Oder nach Mexiko. Oder war es Schweden? Bei einem meiner zahlreichen Umzüge ist der Zeitungsausschnitt verloren gegangen. Ich ziehe nicht gerne um, muss es aber aus beruflichen Gründen oft tun. Ich bin Ingenieur und arbeite für ein staatliches Unternehmen. Ich frage mich, wo Du arbeitest. Und was für einen Beruf Du wohl gewählt hast. Ich weiß nichts von Dir. Dabei hätte ich Dich gerne als Paulo Robertos Paten gehabt. Aber ich habe nicht herausfinden können, wo Du steckst. Die Post war zensiert. Die Beamten in den Botschaften arbeiteten für den Sicherheitsdienst der Diktatur.
    Nach der Amnestie dachte ich, Du würdest nach Brasilien zurückkehren. Einige Exilanten haben das getan. Aber Du bist anscheinend im Ausland geblieben. Es sieht ganz so aus, als wärest Du im Ausland geblieben. Wo auch immer.
    Ich würde gerne mit Dir über sie reden. Über meine Alpträume von ihr. Ich dachte, ich könne sie loswerden, wenn ich über sie schreiben würde. Darüber, was mit ihr geschehen ist. Darüber, was ihretwegen mit uns geschehen ist. Mit mir, mit Dir, mit Ubiratan.
    Aber an vieles erinnere ich mich nicht mehr genau. Anderes habe ich nie richtig in Erfahrung bringen können. Es gibt Situationen, die ich mir so oder so vorgestellt habe. Vielleicht habe ich sie mir richtig vorgestellt, vielleicht auch nicht. Sicher weiß ich nichts. Ich habe alles so aufgeschrieben, wie ich glaube, dass es war, alles, was mir nach und nach wieder eingefallen ist, und ich habe versucht, die Einzelteile zu einem Ganzen zusammenzufügen. Aber in meiner Erinnerung klaffen viele Löcher. Vielleicht erinnerst Du Dich besser. Vielleicht kannst Du ergänzen, was fehlt. Die Lücken füllen. Ich wäre froh, wenn Du das tätest.
    Ich werde diese Seiten aufbewahren, bis ich Dich gefunden habe und sie Dir schicken kann. Wer weiß: Vielleicht treffen wir uns ja eines Tages, und ich kann sie Dir persönlich übergeben? Dann können wir zusammen alles
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