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Der letzte Tag der Unschuld

Der letzte Tag der Unschuld

Titel: Der letzte Tag der Unschuld
Autoren: Edney Silvestre
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aufkam, den kalten Wind, der an jenem lauen Tag auf einmal zu wehen schien und sacht das hohe Gras rund um den See wogen ließ, an den wir uns an jenem Morgen geflüchtet hatten, weit weg von den Erwachsenen, wie wir es schon den ganzen Sommer über getan hatten.
    Wenn man oben auf dem Hügel ankam, konnte man die genaue Ausdehnung des Sees kaum erkennen. Er war von hohen Bambusstauden umgeben, in denen Dutzende lärmender Rotsteißpapageien ihre Nester hatten. Die Papageien und die Bambushaine, die er später so oft in den langen melancholischen Briefen erwähnen sollte, die er mir schrieb.
    Ich weiß nicht mehr, wie der See in Wirklichkeit aussah. Seit jenem April bin ich nicht mehr dort gewesen. Mir bleibt nur das Bild meiner Erinnerung, und das sieht so aus: tiefblau, durchsichtig, in der Sonne glitzernd, die damals unaufhörlich zu scheinen schien.
    Es war ein Dienstag. Ich glaube, es war ein Dienstag. Ich könnte im Kalender nachsehen, um ganz sicher zu sein. Aber ich will nicht. Mir ist die Gewissheit meiner Erinnerung lieber, die mir sagt, dass es ein Dienstag war.
    Dienstag, 12. April 1961.
    Am frühen Morgen hatte ein Radiosprecher verkündet: Ein Mensch ist ins Weltall geflogen. Der erste Mensch im All. Ein Russe.
    Er hieß Juri Gagarin.
    Er behauptete, die Erde sei blau, und ich dachte, wir beide dachten, er und ich, wir redeten darüber, während wir gemächlich die Straße entlangradelten, weg von der Schule, wo eine Strafarbeit auf uns wartete, weil wir mit einem Schmuddelheft erwischt worden waren, wir redeten also darüber, wie wir über alles redeten, und wir sagten uns: Das kann man also auch werden, man kann jemand werden, der durchs Weltall fliegt.
    Wir waren zwölf, in einem Alter, in dem man glaubt, dass alle Phantasien Wirklichkeit werden können, und der Flug von Major Juri Alexejewitsch Gagarin an Bord der Wostok, einer Metallkugel mit einem Durchmesser von zweieinhalb Metern und Fenstern, die kaum größer waren als ein Buch, eröffnete uns im wahrsten Sinne des Wortes den Himmel.
    Astronaut: Noch so ein Wort, das ich nicht kannte.
    Auch Astronaut. Ich könnte auch Astronaut werden. Alles war möglich für jemanden, der noch nicht sicher war, ob er lieber Ingenieur oder Cowboy, Fußballspieler oder Urwaldforscher, Flieger, Testpilot, Verkäufer, Taucher, Archäologe oder Tarzan werden wollte.
    Bisher war Tarzan meine Lieblingsfigur gewesen, niemand schwang sich so lässig von Liane zu Liane wie ich, aber sowohl der afrikanische Urwald von Lord Greystoke als auch Oklahoma, wo in meiner Vorstellung der Wilde Westen mit seinen Helden und Banditen lag, verloren allmählich ihren Reiz, ohne dass ich gewusst hätte, warum. Mir gefiel auch die Vorstellung, ein genialer Wissenschaftler zu sein und Heilmittel für schlimme Krankheiten zu finden, vielleicht sogar einen Impfstoff, der gegen alle Krankheiten half. Vielleicht war auch er derjenige, der Wissenschaftler werden wollte. Einer von uns beiden glaubte, er könne eines Tages Präsident von Brasilien werden und die Dürre und den Hunger im Nordosten beenden. Ich glaube, er war das. Zu den ehrgeizigen Plänen, die wir beide hegten und die umzusetzen uns ein Leichtes schien, gehörte auch der, eines Tages in Rio de Janeiro zu leben. Brasília war knapp ein Jahr zuvor fertiggestellt worden, aber derjenige von uns, der Präsident werden würde, würde die Hauptstadt nach Rio zurückverlegen. Wir waren zwölf. Wir lebten in einem anderen Land. Wir lebten in einer anderen Zeit.

1
    Große Berge und Gebiete im Schatten
    Endlich lag der See vor ihnen.
    Sie waren von der asphaltierten Straße auf den gewundenen Schotterpfad abgebogen. Nun hörten sie auf, in die Pedale zu treten. Leise rumpelnd rollten die Räder abwärts. Kurz vor dem Stacheldraht am Fuß des Hügels stiegen sie ab. Sie nahmen die Bücher und Hefte von den Gepäckträgern und versteckten sie unter einem Gebüsch. Dann hoben sie abwechselnd den Draht an, um sich gegenseitig darunter hindurchschlüpfen zu lassen.
    Das rostige, zerbeulte Fahrrad des dunkelhäutigen Jungen hatte nur noch vorne ein Schutzblech. Es hatte seinem Vater gehört, als der noch Weber gewesen war, und danach seinem Bruder, bis der ein neues bekommen hatte. Am Fahrrad des anderen Jungen, der größer, hellhäutiger und magerer war, war auf der Mittelstange noch deutlich der englische Markenname zu erkennen, obwohl es schon zwölf Jahre her war, seit es im Tausch gegen die günstige brasilianische Währung der
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