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Der letzte Tag der Unschuld

Der letzte Tag der Unschuld

Titel: Der letzte Tag der Unschuld
Autoren: Edney Silvestre
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Nachkriegszeit mit tausenden anderer europäischer Produkte über den Atlantik gekommen war.
    Als sie ihre Räder durch den Mangohain schoben, gruben die Reifen Furchen in die vom Regen der letzten Nacht nasse Erde. Der magere Junge krempelte sich die Hosenbeine bis zum Knie auf, um seine dunkelblaue Segeltuchhose vor Schlammspritzern zu schützen. Der Dunkle machte sich die Mühe nicht. Bei ihm zu Hause würde es sowieso niemand bemerken. Von der Tasche seines schmutzigen Hemds hing das Schulabzeichen halb herunter. Beide hatten die schwarze, fertig geknotete Krawatte abgenommen, die mit einem Plastikhaken am Kragen befestigt wurde, den Teil der Schuluniform, den sie hassten. Nur der größere Junge hatte sie sorgfältig zusammengelegt, bevor er sie in die Hosentasche steckte.
    Sie folgten dem schmalen Pfad durch das Bambuswäldchen, während die Papageien zeternd über ihren Köpfen kreisten, und sprachen über die Dinge, über die zwölfjährige Jungen zu dieser Zeit redeten: ungeheuer wichtige Dinge, die sie selbst und die Welt betrafen, die sie noch nicht verstanden, von der sie aber eine genaue Vorstellung zu haben glaubten, die sie schon bald gegen andere Vorstellungen eintauschen würden, märchenhaft wie ihre Träume. Das Leben der Erwachsenen schien ihnen weit entfernt, freundlich und hell – nicht wie die grausame Welt, in die sie an diesem Morgen geworfen werden würden.
    Am Ufer des Sees legten sie die Räder auf dem Rasen ab, der eine vorsichtig, der andere ließ es achtlos fallen.
    Der Dunklere der beiden riss sich hastig die Kleider vom Leib, warf sie auf das Fahrrad und schleuderte die Schuhe von den Füßen, der hellhäutige Junge dagegen knöpfte das Hemd auf, zog es aus, öffnete die Gürtelschlaufe und ließ die Hose hinunter. Jedes Kleidungsstück wurde sorgfältig zusammengelegt. Während er noch die aufgerollten Strümpfe in die Schuhe steckte, rannte sein Freund schon in Unterhosen zum Wasser und rief ihm zu, fang mich doch, du Eierloch, bevor er sich ins Wasser platschen ließ.
    Der hellhäutige Junge ging zu dem Gebüsch, in dem sie einen Radschlauch als Schwimmreifen versteckt hatten. Er drückte darauf: Der Schlauch war noch prall gefüllt. Er nahm ihn mit ans Ufer und warf ihn ins Wasser. Dann legte er die Hände aneinander, senkte den Kopf und sprang fast geräuschlos in den See.
    Eine Zeitlang schwammen sie im Wasser, das so lau war wie der Tag.
    Später legte sich der magere Junge mit ausgebreiteten Armen und Beinen quer über den Schlauch und ließ sich treiben. Er hörte seinem Freund zu, der prustend und plantschend auf- und untertauchte, zwischendurch ein wenig schwamm, dann wieder verschwand und kurz darauf erneut an der Oberfläche erschien. Dabei schrie und redete er ununterbrochen, warf seinem Freund Sätze oder Fragen zu, die dieser anfangs noch beantwortete, bis er sich, vom warmen Wasser eingelullt, in seinen eigenen Gedanken verlor. Die Stimmen und Geräusche der Außenwelt verschwanden allmählich.
    Irgendwann waren sie ganz verstummt.
    Er trieb in der Stille.
    Alles, was er sah, war das Blau über ihm.
    Aber hatte der russische Astronaut nicht genau das Gegenteil gesagt?
    »Ich sehe die Erde. Sie ist wunderbar. Sie ist blau.«
    Wieso eigentlich blau?, fragte sich der magere Junge. Die Erde und nicht der Himmel? War es wegen der Ozeane? Wegen der Meere? Kontinente sind nicht blau. Berge sind schwarz, Wälder grün, Wüsten weiß, oder nicht? So sehen wir das hier unten. Und auf den Karten. Auf allen Karten. Wie konnte der Astronaut einen blauen Planeten gesehen haben, wenn die Betongebäude, die Brücken, Viadukte, alles, alles grau war? Und die roten und braunen Lehmpfade? Und die asphaltierten Straßen? Aber der Astronaut hatte all das von oben gesehen. Eisenbahnlinien, Häfen, Straßen, Landebahnen, Städte, Amazonien, Sibirien, den Nordpol, Australien, die Mongolei, den Himalaja, die Sahara, alles. Er hatte es gesehen. Der Russe, der Astronaut, hatte das alles unter sich liegen sehen, heute Morgen, als erster Mensch überhaupt. Und er hatte gesagt: blau. Die Erde ist blau. Also war das, was sie bisher im Erdkundeunterricht gelernt hatten, falsch. So wie die Landkarten vor Columbus falsch gewesen waren. Damals hatten die Menschen doch behauptet, die Erde sei flach und ende in einem Abgrund, oder nicht? Werden die Menschen in fünfhundert Jahren auch über das lachen, was wir heute lernen? Werden alle Planeten und Orte, die wir heute kennen, lächerlich klein
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