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Der letzte Tag der Unschuld

Der letzte Tag der Unschuld

Titel: Der letzte Tag der Unschuld
Autoren: Edney Silvestre
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erscheinen, wie es mit der Erde gewesen war, nachdem Pedro Álvares Cabral Brasilien entdeckt hatte? Er hatte die Karten der phönizischen Seeleute benutzt, die lange vor dem Jahr 1500 hier gelandet waren. Und wenn nun heute das Gleiche geschieht? Wenn es Geheimnisse gibt, die die Wissenschaftler kennen, von denen wir aber nichts ahnen? Die die Regierungen vor uns geheim halten, wie die Portugiesen die Karten vor ihren Feinden geheim gehalten hatten? Vielleicht haben die Russen ja die richtigen Himmelskarten. Und die Amerikaner? Ob die Amerikaner die richtigen Himmelskarten besaßen?
    »Ich sehe deutlich die großen Berge und Gebiete im Schatten …«
    Wenn der russische Astronaut die Erde in einer Stunde und achtundvierzig Minuten umkreist hatte, sagte sich der Junge, dann musste er Tag und Nacht gesehen haben, beides gleichzeitig.
    »… die Wälder, die Inseln und Küsten.
    Ich sehe die Sonne, die Wolken …«
    Wenn Japan uns vierundzwanzig Stunden voraus ist, auf der anderen Seite der Erde, wo es schon morgen ist, dann ist der Russe durch die Zukunft zurück in die Vergangenheit geflogen. Aber das geht doch gar nicht. Das kann er nicht. Oder doch? Aber wie? Wenn ich in die Zukunft reise, kann ich mir dann selbst so begegnen, wie ich heute bin?, fragte sich der blasse Junge. Oder so, wie ich heute war?
    »… und die Schatten, die das Licht auf meine geliebte, ferne Erde wirft.«
    Das hatte der Russe gesagt. Der russische Astronaut. Der siebenundzwanzigjährige Major Juri Gagarin. Im Radio hatten sie berichtet, dass er das gesagt hatte. Vielleicht hatte er ja geschwindelt. Die Russen lügen, um die Welt zu erobern, sagte Pater Tomás immer, in jeder Lateinstunde warnte er: Die Kommunisten lügen. Aber Senhor Lamarca sagte, dass die Amerikaner diejenigen sind, die lügen, fiel dem Jungen ein. Weil sie hinter unseren Bodenschätzen her sind, unserem Gold, unserem Erdöl, unserem Monazit …
    In diesem Augenblick kam Paulo angetaucht: geräuschlos näherte er sich Eduardo, dessen Körper er von unten sah, und tat etwas, wovon er wusste, dass sein Freund es hasste: Er kippte den Schwimmreifen um und zog Eduardo gleichzeitig die Unterhose bis auf die Knie herunter.
    Eduardo ging unter, schluckte Wasser und tauchte prustend wieder auf.
    Paulo schwamm rasch ans Ufer, lachend und heulend wie die Indianer nach einer erfolgreichen Attacke gegen die Bleichgesichter in den Western, die sie in der Sonntagsmatinee im Kino Theatro Universo sahen, während Eduardo ihn schimpfend und keuchend mit kräftigen Schwimmzügen einzuholen versuchte.
    Immer noch lachend, stieg Paulo aus dem Wasser, rannte ein paar Meter und blieb dann stehen.
    Er wartete.
    Wütend kam sein Freund näher.
    Ganz nah.
    Paulo lachte wieder, glücklich. Das war sein liebster Streich. Er wusste, dass er schneller und geschickter war als Eduardo; er konnte auch besser dribbeln, manchmal war es von Vorteil, klein zu sein, etwa wenn man nach links oder rechts ausweichen wollte, den Oberkörper gebeugt, und unter Eduardos ausgebreiteten Armen hindurchtauchen, so wie er es jetzt tat.
    Verwirrt und unfähig, so rasch die Richtung zu ändern, verfolgte ihn Eduardo, glitt mit den nackten Füßen manchmal im nassen Gras oder im Schlamm aus, während sein Freund davonrannte, ohne jemals das Gleichgewicht zu verlieren.
    Doch dann stolperte Paulo über etwas und fiel hin.
    Es war ein Körper.
    Eine Frau, blond, mit gespreizten Armen und Beinen, mit Blut und Schlamm bedeckt.
    Die linke Brust war abgeschnitten.
    Das Loch zwischen den Steinen und die schwarzen Ameisen, die geschäftig in einer ordentlichen Reihe aus ihm herausmarschierten, war alles, was Eduardo sehen konnte. Er stand mit dem Gesicht zu der rauen Wand, an die ihn die Polizisten gestoßen hatten. Die Ameisen krabbelten die Wand hinauf zu der vergitterten Öffnung hoch über seinem Kopf, durch die die heiße Nachmittagsluft und undefinierbarer Straßenlärm hereindrangen: das Rollen von Karrenrädern und das Hufeisengeklapper eines Maultiers auf dem Kopfsteinpflaster, die Stimmen zweier vorbeigehender Frauen, ein fernes, unbestimmtes Wimmern wie von einem weinenden Kind, vielleicht auch von einem Gefangenen im Untergeschoss des Polizeireviers.
    Die drei Polizisten stanken. Er schwitzte und hoffte, dass es kein Angstschweiß war.
    »Ich hab sie zuerst gesehen«, sagte er zum x-ten Mal.
    »Aber ich bin über die Leiche gestolpert«, beharrte Paulo.
    Sie standen mit den Rücken zueinander, Paulo mit dem Gesicht
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