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Der letzte Tag der Unschuld

Der letzte Tag der Unschuld

Titel: Der letzte Tag der Unschuld
Autoren: Edney Silvestre
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haben uns so lange nicht mehr gesehen. Ich habe immer gehofft, ihn eines Tages wiederzufinden. Aber wenn man wie ich im Ausland lebt … und immer nur für kurze Zeit hierherkommt … nur für ein paar Tage … zu Sitzungen, Konferenzen … Aber im Grunde habe ich immer daran geglaubt, dass ich … Verzeihen Sie. Eigentlich bin ich sonst nicht um Worte verlegen, aber als Sie den Hörer abgenommen haben, ist mir so viel durch den Kopf gegangen. Es ist so lange her …«
    »Sie wollen mir doch nicht etwa was verkaufen?«
    »Nein, nein! Ich sagte ja schon, ich will nur mit ihm reden. Dabei weiß ich nicht einmal, was ich ihm nach all den Jahren sagen will. Wir waren als Kinder befreundet. Als Jugendliche. Als fast Jugendliche. Dann haben wir uns durch einen unglücklichen Zufall aus den Augen verloren. Und seitdem …«
    »Sind Sie ein Freund aus der Zeit in Tabauté?«
    »Nein. Wir sind im Bundesstaat Rio zusammen zur Schule gegangen, im Landesinneren.«
    »Mein Mann hat nie in Rio gewohnt. Er hat an vielen Orten in Brasilien gelebt, aber niemals in Rio, da bin ich mir sicher. Sie haben die falsche Person angerufen.«
    »Er hat nie im Landesinneren des Staats Rio gelebt? In einer Stadt namens …«
    »Nie.«
    »Wirklich nicht?«
    »Nein.«
    »Ah … Dann entschuldigen Sie bitte. Ich habe den Namen im Telefonbuch gefunden, den Namen meines Freundes, und da dachte ich … Da dachte ich, das könnte er sein. Ich glaubte, er sei es.«
    »In welchem Telefonbuch?«
    »Na, im örtlichen. Im Telefonbuch von São Paulo.«
    »Ich dachte, es könnten vielleicht die Gelben Seiten gewesen sein. Mein Mann steht nämlich gar nicht im Telefonbuch.«
    »Ach nein? Aber diese Telefonnummer …«
    »Wollten Sie wirklich Fábio sprechen?«
    »Fábio?«
    »Meinen Mann.«
    »Fábio? Nein. Ich habe keinen Fábio angerufen. Verzeihen Sie, ich habe mich geirrt. Aber die Nummer steht im Telefonbuch, hier, ich habe sie sogar angestrichen …«
    »Das muss ein altes Telefonbuch sein.«
    Er sah auf den Umschlag.
    »Es ist von 1996.«
    »Ach, deshalb. Da lief die Nummer noch auf meinen Schwiegervater.«
    »Ihren Schwiegervater? Das ist die Nummer Ihres Schwiegervaters? Kann ich ihn sprechen? Wir haben uns lange nicht mehr gesehen, aber ich bin mir sicher, er erinnert sich noch an mich.«
    Die weibliche Stimme antwortete nicht.
    »Kann ich mit Ihrem Schwiegervater sprechen?«
    »Was wollen Sie von ihm?«
    »Bitte entschuldigen Sie, wenn ich Sie dränge, aber ich bin in Eile. Mein Taxi wird jeden Augenblick da sein. Ich habe schon vorher versucht, Sie zu erreichen, ich habe, wie gesagt, mehrmals bei Ihnen angerufen, aber nie ist jemand drangegangen.«
    »Wir waren mit den Kindern verreist. Es sind Schulferien.«
    »Ja, natürlich, ich verstehe. Und Ihr Schwiegervater …«
    »Wer sind Sie?«
    »Ein Freund. Aus alten Zeiten. Jeder ist seiner Wege gegangen und …«
    »Warten Sie einen Augenblick. Ich hole meinen Mann.«
    Er hörte, wie das Telefon auf einer harten Unterlage abgelegt wurde. Eine Zeitlang blieb alles still. Kinderstimmen im Hintergrund. Die Stimme der Frau. Die Stimme eines Mannes. Dann wieder ihre Stimme. Stille. Erneut ihre Stimme. Schritte. Jemand nahm das Telefon auf. Eine Männerstimme am anderen Ende der Leitung.
    »Ja bitte?«
    »Guten Morgen. Sie kennen mich nicht …« Er schluckte, zu bewegt, um weiterreden zu können. Er sprach mit seinem Sohn! Nach all den Jahren!
    »Guten Tag.«
    »Ja natürlich, guten Tag. Guten Tag. Sie kennen mich nicht. Ich bin ein Freund Ihres Vaters.«
    »Ich kenne alle Freunde meines Vaters. Es waren sehr wenige. Welcher dieser Freunde sind Sie?«
    »Ich bin ein Freund aus alten Zeiten. Aus dem Landesinneren von Rio.«
    »Dort ist Papa weggezogen, als er zwölf war.«
    »Ich weiß. Ich bin auch mit zwölf von da weggezogen. Sowohl seine Eltern als auch meine Eltern wurden gezwungen …«
    »Haben Sie mit ihm an der Fachhochschule für Ingenieurswesen studiert?«
    »Wir haben uns nie wiedergesehen.«
    »Und warum suchen Sie jetzt nach ihm?«
    »Ich würde mich gerne mit ihm unterhalten. Ich versuche es schon so lange. Ich hatte ihn aus den Augen verloren. Wir haben uns aus den Augen verloren. Das Leben hat uns getrennt.«
    »Was wollen Sie?«
    »Nichts. Ich kann verstehen, dass Sie misstrauisch sind. Ich bin ein Unbekannter. Für Sie. Aber nicht für Ihren Vater. Ich sagte ja schon: Ich will nichts. Ich lebe nicht in Brasilien. Gleich holt mich ein Taxi ab, dann fliege ich zurück. Ich
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