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Der letzte Tag der Unschuld

Der letzte Tag der Unschuld

Titel: Der letzte Tag der Unschuld
Autoren: Edney Silvestre
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habe nicht viel Zeit. Ich würde gerne mit Ihrem Vater reden. Und wenn es nur für ein paar Minuten ist. Jetzt, wo ich ihn gefunden habe, könnten wir uns für ein anderes Mal verabreden. Ist er da? Kann ich ihn sprechen?«
    »Wie lange … Seit wann haben Sie nichts mehr von ihm gehört?«
    »Seit vierzig Jahren. Im April werden es einundvierzig Jahre.«
    »Und Sie kannten wirklich meinen Vater?«
    »Ja, ja, ich kannte ihn. Er war mein bester Freund. Und ich war sein bester Freund.«
    »Wie hießen seine Eltern?«
    »Das weiß ich nicht mehr.«
    »Sie erinnern sich nicht an den Namen meines Großvaters? Und an den meiner Großmutter auch nicht?«
    »So auf Anhieb fallen sie mir nicht ein.«
    »Haben Sie nicht behauptet, Sie seien Freunde gewesen?«
    »Das waren wir auch. Wirklich. Aber ich habe mir nie überlegt, wie seine Eltern hießen. Ich weiß nicht mal, ob ich ihre Namen überhaupt kannte.«
    »Sie haben sie nie erfahren? Weder den Namen des Vaters Ihres besten Freundes noch den Namen seiner Mutter?«
    »Ich habe seit vierzig … seit einundvierzig Jahren nicht mehr mit ihm gesprochen, ihn nicht mehr gesehen und nichts mehr von ihm gehört. Sowohl sein Vater als auch meiner wurden aus unserer Heimatstadt vertrieben. Es gab dort damals ein Verbrechen. Hat er nie davon erzählt?«
    »Nein, nie.«
    »Er hat nie von dem Mord an einer Frau namens Anita erzählt?«
    »Nein.«
    »Aparecida?«
    »Nein. Anita oder Aparecida?«
    »Jetzt weiß ich es wieder!«
    »Was?«
    »Den Namen seines Vaters: Ronaldo.«
    »Mein Großvater hieß nicht Ronaldo.«
    »Nein?«
    »Nein. Sind Sie sicher, dass Sie sich nicht verwählt haben?«
    »Adolfo? Hieß er Adolfo?«
    »Nein, auch nicht. Mein Großvater ist jedenfalls früh gestorben. Mit knapp über vierzig. Herzinfarkt. Genau wie mein Vater.«
    Stille.
    »Ihr Vater …«, setzte er an, konnte aber nicht weitersprechen.
    »Papa ist vor sechs Jahren gestorben. Ebenfalls an einem Infarkt.«
    »Ihr Vater …«, begann er wieder, dann versagte ihm die Stimme. Er sah sich im Spiegel des Kleiderschranks. Er war kreidebleich. Er holte tief Luft und setzte von neuem an:
    »Ihr Vater hieß …«
    »Eduardo.«
    »Eduardo …«, sagte er mit einem Seufzer. »Eduardo José Massaranni.«
    »Genau. Eduardo José Massaranni. Kannten Sie ihn?«
    Stille.
    »Hallo?«
    Kein Laut am anderen Ende der Leitung.
    »Hallo?«
    Keine Antwort.
    »Hallo? Sind Sie noch da?«
    Nichts.
    »Hallo? Hallo? Hallo?«
    Jemand atmete in den Hörer, sagte aber nichts.
    »Hören Sie mich? Hallo! Hallo!«
    Noch immer nur das Atmen. Kein Wort.
    »Hallo? Sind Sie noch da? Hallo?«
    »Ja, ich bin noch da«, sagte die Stimme kaum hörbar. Und dann, ein wenig lauter: »Ich bin noch da.«
    »Bitte entschuldigen Sie, dass ich Ihnen die Nachricht so unvermittelt überbracht habe. Ich dachte nicht, dass Sie … Ich verstehe, dass Sie schockiert sind.«
    »Ja. Das hatte ich mir nie überlegt. Es war mir nie in den Sinn gekommen … Ich habe schon so lange nach Eduardo gesucht, und nun, als ich dachte, ich hätte ihn gefunden … Wann ist Eduardo gestorben?«
    »Vor sechs Jahren. 1996.«
    »Mit siebenundvierzig.«
    »Ja.«
    »Wir sind gleichaltrig. Waren gleichaltrig. Ich bin nur ein ganz bisschen älter. Achtundvierzig Tage. Ich bin am 11. Januar geboren. Er am 28. Februar. Heute wäre sein Geburtstag.«
    »Ja. Es tut mir leid, dass ich es Ihnen so gesagt habe. Ich wusste nicht, dass …«
    »Sie sagten, er hätte Ingenieurswesen studiert?«
    »Ja. Er war Ingenieur. Er hat an vielen Wasserkraftwerken in Brasilien mitgebaut. Sogar an dem von Itaipu. Damals haben wir in Paraguay gewohnt. Überallhin, wohin er versetzt wurde, hat er seine Familie mitgenommen.«
    »Immer?«
    »Immer. Wir haben an vielen Orten gewohnt, von denen noch nie jemand etwas gehört hat: In Itumbiara in Goiás, Icem in Minas, Três Lagoas in Mato Grosso do Sul, Candeias do Jamari in Rondônia und sogar an einem Ort, der gar keinen Namen hatte, in einem Dorf in Pará, mitten im Dschungel am Amazonas, vierhundert Kilometer von Belém entfernt, als das Wasserkraftwerk von Tucuruí gebaut wurde. Waren Sie schon mal da?«
    »In Belém? Ja.«
    »In Rio Grande do Sul wohnten wir an einem Ort mit einem sehr seltsamen Namen: Passo do Inferno – Höllenpass. In der Serra Gaúcha. Es war saukalt dort. Ich hasse die Kälte. Wir haben wirklich an sehr vielen Orten gelebt. Mein Bruder fand das toll. Ich nicht.«
    »Sie haben einen Bruder?«
    »Und eine Schwester.
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