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Der letzte Tag der Unschuld

Der letzte Tag der Unschuld

Titel: Der letzte Tag der Unschuld
Autoren: Edney Silvestre
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so alt. Wenn’s reicht. Sie stand nur auf alte Männer. Sie hat’s nur mit Alten getrieben. Mich hat sie nie angesehen.«
    Antonio legte die Hanteln auf den Boden, blähte die Brust auf, stellte sich quer zum Spiegel, atmete aus, fuhr sich mit den Händen über den Bauch, strich sich über die blonden Haare, drehte sich dann wieder mit dem Gesicht zum Spiegel, holte noch einmal tief Luft und beugte die Arme. Die Pose bestätigte ihm: Seine Bizepse wurden immer größer. Unwillkürlich lächelte er, mit sich selbst zufrieden. Er nahm die Hanteln wieder auf und beugte abwechselnd beide Arme hinter dem Kopf, sodass nun die Trizepse trainiert wurden.
    Wütend schob Paulo Bett- und Tagesdecke ans Fußende des Bettes, fand aber nichts.
    »Wo ist das Buch, das hier gelegen hat?«
    »Weiß ich doch nicht. Hast du gesehen, wie sie ihren Mann verhaftet haben?«
    Überrascht wandte Paulo sich um.
    »Die Polizei hat den Mann verhaftet? Warum?«
    »Er hat sich gestellt. Hat gesagt, er hätte sie umgebracht. Wieso hast du den Zahnarzt nicht gesehen, wenn du dort warst?«
    Paulo rechnete nach: Sein Vater hatte ihn vor zwei Stunden von der Wache abgeholt. Gemeinsam mit Eduardo und seiner Mutter waren sie zur Schule gegangen, weil der Rektor sie zu sich bestellt hatte. Sie mussten fast eine halbe Stunde warten und dann eine lange Gardinenpredigt über sich ergehen lassen. Als sie das Schulgebäude verließen, begann es bereits zu dunkeln. Die Straßenlaternen hatten schon gebrannt, als sie zu Hause ankamen. In der Zwischenzeit musste sich der Ehemann der Toten gestellt haben, überlegte Paulo, während er zu Antonios Bett hinüberging, weil er sich fast sicher war, dass dieser das Buch genommen hatte, das Eduardo ihm geliehen hatte. Ein Griff unter die Matratze genügte, um seinen Verdacht zu bestätigen.
    Vorsichtig zog er das Buch hervor, auf dessen farbigem Titelbild sein Lieblingsheld von einer hohen Klippe aus auf eine Urwaldstadt hinunterblickte, die an den Ufern eines breiten Flusses lag und seit Jahrhunderten von keinem Fremden betreten worden war.
    Er ging zu seinem Bett, ließ sich darauffallen, schleuderte die Schuhe von den Füßen und schlug das zerlesene Exemplar von Tarzan und die goldene Stadt bei der Seite auf, die er mit einem Stück Faden markiert hatte. Er begann zu lesen.
    »Was liest du da, Schwarzer? Ein Buch über Nutten? Ich les nicht gern. Noch nicht mal Schweinkram. Ist verlorene Zeit. Ich fick lieber. Am liebsten steck ich ihn irgendwo rein. In Mösen, in Ärsche, in den Mund, Hauptsache, ich kann ihn irgendwo reinstecken, ich steck meinen Lümmel rein und hab meinen Spaß. Viel Spaß. Ich hab nen großen Schwanz, also hab ich viel Spaß und …«
    Bald war Paulo weit weg. Die Schmerzen waren vergessen. Es gab keine Scham und keine Traurigkeit mehr. Er lief durch die Straßen einer märchenhaften Stadt mitten im afrikanischen Dschungel, gesäumt von kunstvoll gestalteten Häusern und Mauern aus allen kostbaren Materialien, die man sich nur erträumen konnte, die Metropole einer hochentwickelten Zivilisation, bewohnt von einem unvergleichlichen Volk, bewacht von stolzen Kriegern, die in Felle und mit Smaragden und Rubinen verzierte Rüstungen gehüllt waren, mutige Kämpfer, die sich aber zuletzt der Tapferkeit, Aufrichtigkeit und Furchtlosigkeit des Königs des Dschungels beugen würden.
    »Wie viele Messerstiche haben sie ihr verpasst?«
    Antonios Stimme holte Paulo jäh ins Zimmer zurück. Das war ihm gar nicht recht. Mit einer großen Anstrengung entschwand er wieder ins Land Onthat, wo die verborgenen Städte Cathne und Athne mit ihren Türmen aus Gold und Elfenbein lagen.
    »Wie viele Stiche waren’s? Sieben? Acht? Manche sagen, es waren über zwanzig. Wie viele waren’s denn jetzt?«
    Er versuchte, in die Stadt zurückzukehren, in der man Tarzan soeben in eine Arena gestoßen hatte, damit er zum Klang der Trompeten gegen einen bärenstarken Riesen namens Phobeg antrat. Dem Verlierer des Zweikampfs würde man zum Vergnügen der schönen, aber verderbten Königin Neome die Kehle durchschneiden.
    »Wie viele Stiche?«
    Tarzan streifte die Fesseln ab und …
    Antonio riss Paulo das Buch aus den Händen.
    »Gib her! Gib mir das Buch!«
    »Wie viele waren es?«
    Vergebens versuchte Paulo, das Buch zurückzuerobern, das der Bruder mit einer Hand hoch über seinen Kopf hielt, während er ihn mit der anderen abwehrte.
    »Gib mir das Buch! Gib es her!«
    »Wie viele Stiche? Erst musst du mir sagen, wie
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