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Der letzte Tag der Unschuld

Der letzte Tag der Unschuld

Titel: Der letzte Tag der Unschuld
Autoren: Edney Silvestre
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Straße erklang ein Pfiff. Dann ahmte jemand viermal hintereinander den Ruf eines Tinamus nach. In den gleichförmigen Mietshäusern war es dunkel und still. Die Angestellten der Zentralbrasilianischen Eisenbahngesellschaft gingen früh zu Bett. Schon in wenigen Stunden würden sie sich, von schrillenden Weckern oder verschlafenen Ehefrauen aus dem Schlummer gerissen, auf den Weg zur Arbeit machen, den Bauch voller Kaffee und Margarinebrot, das sie im Stehen in der Küche gegessen hatten, und unter einem Himmel, der ebenso dunkel war wie zu der Zeit, als sie schlafen gegangen waren. Noch bevor die Arbeiter aus der Tuchfabrik von ihrer Nachtschicht heimkehrten, würden sie mit ihren Thermoskannen und den Aluminiumdosen mit dem am Abend zuvor zubereiteten Mittagessen über das taufeuchte Kopfsteinpflaster trotten, das im Licht der Straßenlaternen unter ihren Füßen glänzte.
    Paulo wartete, an sein Fahrrad gelehnt, vor einem der Häuser, trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen und starrte unverwandt zu dem Fenster hinauf, hinter dem Eduardos Zimmer lag. Die Minuten verstrichen ohne ein Anzeichen dafür, dass es ihm gelungen war, seinen Freund zu wecken.
    Er wiederholte das Geheimzeichen, diesmal lauter. Ein langer Pfiff, vier Vogelrufe. Vergebens.
    Von den dunklen Bergen, die die Stadt umgaben, stieg der morgendliche Aprilnebel herab. Manchmal riss der dünne Schleier auf und gab sternenübersäte Himmelsfetzen frei.
    Paulo stellte das Fahrrad ab und sprang über das Gartenmäuerchen, um zu vermeiden, dass das Gatter quietschte und die Erwachsenen weckte. Die Beete, zwischen denen schmale, mit bunten Fliesenscherben verzierte Pfade verliefen, hatten weiß gekalkte Zementeinfriedungen, um die Ameisen fernzuhalten. Ein Rosenstrauch rankte sich an einem Metallgitter empor, das aussah wie das Gestänge eines Regenschirms. Er war die einzige hochwachsende Pflanze im Garten, wahrscheinlich ein Überbleibsel der Eisenbahnerfamilie, die zuvor hier gelebt hatte. Seit sie vor zwei Jahren hierhergezogen waren, pflanzte Eduardos Mutter nur niedrigwachsende Blumen mit weiblichen Namen, die Paulo nicht kannte, und ordnete sie nach Arten und Farbtönen zu wunderhübschen Arrangements.
    Dieselbe sorgfältige Ordnung herrschte auch innerhalb der Wohnung, wie er bemerkt hatte. Glänzende, nach Politur duftende Möbel, bedeckt mit selbstgemachten Häkeldeckchen. Im Ofen wartete immer etwas zu essen auf Eduardo, falls er Hunger hatte. Gardinen an den Fenstern. Türen, die man abschließen konnte. Stoffstücke, Schnittmuster und begonnene Näharbeiten für Kunden, zusammengefaltet und auf dem Resopaltisch gestapelt, daneben die stets sorgfältig geölte Nähmaschine. Die Böden jeden Samstag gebohnert. Ein Gefühl von Beständigkeit und Ordnung, das Paulo zwar wahrnahm, aber nicht hätte beschreiben können, wie es ihm mit so vielen Dingen geschah.
    Oft malte er sich aus, wie schön es wäre, an einem solchen Ort zu leben: ein Ort, an dem es immer sauber war, wo ihn ein frisch zubereitetes, noch warmes Essen erwartete, wenn er von der Schule kam, wo er sich an den Tisch setzen und essen konnte, während ihn die Mutter oder jemand anders fragte, was er am Morgen gelernt habe. Nachmittags würde die Mutter zwischen den einzelnen Anproben mit Kundinnen in sein Zimmer kommen, wo er die Hausaufgaben erledigte, und ihm ein Stück frisch gebackenen Kuchen und ein Glas Milch bringen. Wie wohl so ein selbst gebackener Kuchen roch?
    Blödsinn. Er mochte gar keinen Kuchen. Ob er das, was die Köchin in den Töpfen auf dem Herd für ihn stehen ließ, aß oder nicht, war allein seine Sache. Die Hausaufgaben erledigte er, weil es ihm Spaß machte und er es immer wieder überraschend fand, Neues zu lernen. Er badete, wenn er Lust hatte: oft, wenn es heiß war, selten, wenn es kalt war, und er wechselte die Wäsche oder auch nicht, je nachdem, wie ihm der Sinn stand. Wäre seine Mutter noch am Leben wie bei Eduardo, hätte er diese Freiheit nicht. Und erst recht nicht die Freiheit, zu kommen und zu gehen, wie es ihm beliebte. Zu jeder Tages- und Nachtzeit. Zu fast jeder: Spätnachts war verboten. Aber wenn der Vater und Antonio über Nacht im Puff blieben, brauchte er sich selbst darum keine Sorgen zu machen. So wie in dieser Nacht.
    Unter dem Fenster wiederholte er den Pfiff und den Vogelschrei. Einmal. Zweimal. Als er gerade beim dritten Mal war, erschien Eduardo in einem blau-grau gestreiften, bis obenhin zugeknöpften Pyjama.
    »Was ist los,
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