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Der Leguan will das nicht: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Der Leguan will das nicht: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Der Leguan will das nicht: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
Autoren: Giusi Marchetta
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los.
    »Also? Wer ist gestorben?«
    Ich nahm einen Schluck von meinem Bier.
    Ich muss Gianni anrufen, dachte ich. Er soll es als Erster erfahren.
    »Eine Schule hat mich angerufen. Sie haben einen Vertretungsjob für mich. Bis zum Ende des Schuljahres. In Turin.«
    Massimiliano versiegelte seine Zigarette, indem er mit der Zunge darüber fuhr.
    »Gut.«
    »Ich habe nur dieses Wochenende. Es ist unmöglich.«
    Er überhörte mich. Mit den Fingern zupfte er die Tabakfäden zurecht, die oben herausragten.
    »Heute und morgen findest du ein Zimmer und packst deine Sachen. Wenn du Samstagnacht losfährst, bist du am Sonntag in Turin und hast alle Zeit der Welt, um dich dort einzurichten.«
    Ich antwortete nicht. Wir hatten schon immer ein unterschiedliches Zeitgefühl, er und ich, was man nun daran sah, wie er sich streckte, um das Feuerzeug in seiner Tasche zu suchen, dabei den Kopf neigte, um einen Freund auf dem Weg zur Musikhochschule zu grüßen, wie er die Zigarette auf dem Tisch rotieren ließ und sie vergaß, um sich in Richtung Auto zu beugen und nachzusehen, ob es noch dastand, wie er die Beine unterm Tisch ausstreckte und seine Schuhe betrachtete, erst den einen, dann den anderen.
    Er hat alle Zeit der Welt, ich nicht.
    »Mach nicht so ein Gesicht«, sagte er. »Ich begleite dich.« Ich legte ihm die Hand auf den Arm. Er zog das Päckchen mit dem Tabak, die Zigarettenpapierchen und die Filter aus der Jackentasche. Drehte sich eine neue Zigarette.
 
    Die Belcari hat mich gebeten, hier zu warten; ich rühre mich nicht von der Stelle. Der Ringordner liegt noch aufdem Tisch, halb aufgeschlagen. Obwohl er verkehrt herum liegt, kann ich die Überschrift auf dem Blatt lesen: Es handelt sich um eine Funktionsdiagnose. Ich stehe auf und gehe ein paar Schritte durchs Zimmer. Die Wandschränke sind geschlossen, aber jeder Versuch, die Flügel zu öffnen, gelingt auf Anhieb: Nichts ist unter Verschluss. Auf den Schränken liegen Farben aller Art, Tempera, Pastelle, Plastilin. Und Bücher. Und Papier für den Drucker.
    Aufs Geratewohl nehme ich ein Buch, halte es vor mich, während ich einen flüchtigen Blick auf die Dokumente von Riccardi werfe.
    Er ist ein mittelschwerer Fall von Zurückgebliebenheit.
    Gut , sagt in meinem Kopf Biagini, der Professor für Behindertenpädagogik im Spezialisierungsseminar. Heute verfügen wir über mehr Instrumente als in der Vergangenheit, um die mittelschwere Zurückgebliebenheit so anzugehen, dass man mehr als befriedigende Resultate erzielt.
    Er hat eine differenzierte Beurteilung.
    Bestens , fährt Biagini fort. Durch das Differenzieren der didaktischen Inhalte für ihn von denen für die Klasse kann der Dozent den Bildungsweg individualisieren und somit den Erfordernissen des Schülers anpassen.
    Er ist psychotisch. Autistisch. Hat das Borderline-Syndrom.
    Scheiße , sagt Biagini.
    Es ist warm in diesem Zimmer, obwohl es groß ist. Ich blättere in dem zufällig gegriffenen Buch, es ist ein Handbuch für Orthografie, ich frage mich, ob es von Nutzen sein wird.
    Die Belcari kommt nicht zurück, daher fühle ich michirgendwie dazu berechtigt: Ich strecke eine Hand nach dem Ringordner aus und blättere die Diagnose durch.
    Das Wort Störung fällt mir auf, noch ehe ich es lese.
    Biagini schweigt.
    Ich ordne das Aktenbündel, um es in die ursprüngliche Position zurückzubringen. Nun kann man nur den Stempel der örtlichen Abteilung für Kinderneuropsychiatrie und den Namen lesen: A. Riccardi.
    Vom Fenster aus sieht man den Innenhof und die wenigen Bänke, die den Spielplatz kreisförmig umgeben.
    Alfredo.
    In einer Ecke des Zimmers liegen aufeinandergestapelte Staffeleien. Die Zeichnung eines jungen Gänserichs mit offenem Schnabel ist zur Hälfte fertig und die weiße Tempera von einer Seite bis zum unteren Rand getropft.
    Vielleicht Alessandro.
    Schachteln von unterschiedlicher Farbe und Größe machen sich eine Bank unter dem mittleren Fenster streitig. Sie sind von Hand bemalt: Da gibt es eine mit dem Batman-Symbol, eine mit einem roten Herzen, umgeben von anderen reliefartig modellierten Herzen. Auf dem Deckel einer anderen öffnet sich die Fratze von Kermit, dem Frosch, zu einem zahnlosen und leicht dümmlichen Grinsen.
    Etwas weiter hinten liegt eine vollkommen schwarze Schachtel: Hier und da durchbohren spitze Zacken den Deckel aus Pappkarton. Ich trete näher und hebe sie hoch, sie ist schwer. Die Temperafarbe, die mit dicken Pinselstrichen aufgetragen wurde, bildet eine dunkle
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