Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der langsame Walzer der Schildkroeten

Der langsame Walzer der Schildkroeten

Titel: Der langsame Walzer der Schildkroeten
Autoren: Katherine Pancol
Vom Netzwerk:
ihr Handy klingelte. Es war Inspecteur Garibaldi, der ihr mitteilte, dass sie wieder zurück in ihre Wohnung könne.
    »Haben Sie etwas gefunden?«
    »Ja. Ein Tagebuch, das Ihre Schwester geführt hat …«
    »Darf ich es lesen? Ich würde so gerne verstehen …«
    »Ich habe es heute Morgen in Ihrem Hotel abgeben lassen, es gehört Ihnen. Sie lebte nicht mehr in unserer Welt … Das werden Sie erkennen, wenn Sie es lesen.«
    Joséphine rief bei der Rezeption an. Sofort brachte man ihr einen Umschlag herauf.
    »Macht es dir etwas aus, wenn ich es jetzt gleich lese?«, fragte sie Shirley. »Ich kann nicht damit warten. Ich möchte sie so gerne verstehen …«
    Shirley bedeutete ihr, dass sie ins Nebenzimmer gehen werde.
    »Nein. Bleib bei mir …«
    Joséphine öffnete den Umschlag, zog etwa dreißig Seiten heraus und stürzte sich darauf. Je länger sie las, desto bleicher wurde sie.
    Schweigend reichte sie Shirley die Seiten.
    »Darf ich?«, fragte Shirley.
    Joséphine nickte und rannte ins Bad.
    Als sie wieder zurückkam, war Shirley fertig und starrte ins Leere. Joséphine setzte sich neben sie und legte den Kopf an ihre Schulter.
    »Das ist grauenvoll! Wie konnte sie nur …«
    »Ich weiß genau, was sie empfunden hat. Ich habe diesen Zustand auch erlebt.«
    »Mit dem Mann in Schwarz?«
    Shirley nickte. Schweigend reichten sie einander einzelne Seiten hin und her, studierten Iris’ elegante Handschrift, die zum Ende hin nur noch einer Reihe zerquetschter Fliegenbeine auf weißen Blättern glich.
    »Das sieht ja fast aus wie die Krakeleien eines kleinen Mädchens«, sagte Joséphine.
    »Genau das ist es«, sagte Shirley. »Er hat sie wieder zu einem Kind gemacht. Und es bedarf einer unglaublichen Kraft, diesem Irrsinn zu entkommen …«
    »Aber man muss doch schon verrückt sein, um sich überhaupt darauf einzulassen!«
    Shirley sah sie an, und eine seltsame Wehmut spiegelte sich in ihren Zügen.
    »Dann war ich auch verrückt …«
    »Aber du hast es überwunden. Du bist nicht bei diesem Mann geblieben!«
    »Aber um welchem Preis! Und ich kämpfe immer noch jeden Tag dagegen an, nicht einfach zu ihm zurückzugehen. Ich kann mit keinem Mann mehr schlafen, ohne vor Langeweile zu sterben, so schal und abgestanden erscheint es mir! Es ist eine Sucht, es ist wie Drogen, Alkohol oder Zigaretten. Du kannst nicht mehr ohne leben. Ich träume immer noch davon. Ich träume von dieser vollkommenen Abhängigkeit, von diesem Verlust des Bewusstseins meiner selbst, von dieser merkwürdigen Lust, die aus Warten, Schmerz und Glück erwächst, von dem Gefühl, jedes Mal eine Grenze zu überschreiten … Die Grenzen einer tödlichen Gefahr immer weiter hinauszuschieben. Sie ist ihrem Tod entgegengegangen, aber ich kann dir versichern, dass sie dabei glücklich war, so glücklich wie noch nie zuvor in ihrem Leben!«
    »Du bist ja verrückt!«, schrie Joséphine und rückte von ihrer Freundin ab.
    »Gary hat mich gerettet. Meine Liebe zu Gary. Er allein hat es mir ermöglicht, aus diesem Abgrund herauszukommen … Iris war keine Mutter.«
    »Aber du bist doch normal! Sag mir, dass du normal bist! Sag mir, dass ich nicht nur von Verrückten umgeben bin!«, schrie Joséphine.
    Shirley schaute mit einem eigenartigen Ausdruck in Joséphines mit einem Mal schreckerfüllte Augen und sagte leise: »Was ist denn schon ›normal‹, Jo? Was ist es nicht? Who knows? Und wer entscheidet über die Norm?«
    Joséphine zog ihre Laufschuhe an und rief Du Guesclin. Er lag vor dem Radio, hörte TSF Jazz und wackelte dabei mit dem Hintern. Das war sein Lieblingssender. Er hörte ihn stundenlang. Wenn Werbung kam, stand er auf, schnüffelte an seinem Napf oder legte sich vor Joséphines Füßen auf den Rücken und streckte ihr seinen Bauch entgegen, damit sie ihn kraulte. Danach kehrte er auf seinen Posten zurück. Wenn eine Trompete in schrillen Höhen entgleiste, legte er die Pfoten auf die Ohren und wiegte schmerzlich den Kopf hin und her.
    »Na, komm schon, Du Guesclin, wir gehen!«
    Sie musste sich bewegen. Musste laufen. Musste, indem sie ihren Körper an seine Grenzen zwang, den schmerzhaften Druck loswerden, der sie zu zerquetschen drohte. Ich werde mich niemals davon erholen, diese Wunde wird niemals heilen.
    Zum Glück bist du da! Mit deinem Banditengesicht, murmelte sie Du Guesclin zu. Wenn die Leute sich zu ihr vorbeugten und mit einem überraschten Klang in der Stimme fragten: »Ist das Ihr Hund?«, als wollten sie sagen: Haben Sie ihn
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher