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Der lange Weg zur Freiheit

Der lange Weg zur Freiheit

Titel: Der lange Weg zur Freiheit
Autoren: Nelson Mandela
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so betätigte ich mich als Hirte, als Wagenlenker, als Pflüger. Ich ritt auf Pferden, schoß mit Steinschleudern auf Vögel und wetteiferte mit anderen Jungen, und abends tanzte ich manchmal zu dem wunderschönen Gesang und dem Händeklatschen von Thembu-Mädchen. Obschon ich Qunu und meine Mutter vermißte, ging ich schon bald völlig in der Gemeinde von Mqhekezweni auf.
    Ich besuchte eine kleine, einräumige Schule auf dem Hügelkamm und lernte Englisch, Xhosa, Geschichte und Geographie. Wir lasen Chambers English Reader und schrieben auf schwarze Schiefertafeln. Unsere Lehrer, Mr. Fadana und später Mr. Giqwa, nahmen an mir ein besonderes Interesse. Ich lernte schnell, allerdings weniger aufgrund meiner Klugheit als meiner Zähigkeit. Meine Selbstdisziplin wurde bestärkt von meiner Tante Phathiwe, die im Großen Platz, dem Anwesen des Regenten, wohnte und meine Schularbeiten mit unerbittlicher Strenge überwachte.
    Mqhekezweni war eine Missionsstation der Methodist Church und weit moderner und westlicher als Qunu. Die Menschen trugen moderne Kleidung. Die Frauen bevorzugten den strengen protestantischen Stil der Missionare: dicke lange Röcke aus schwerem Stoff und Blusen, die bis zum Hals hinaufreichten; dazu eine über die Bluse drapierte Decke und ein mit Eleganz gewundenes Kopftuch.
     
     
    Die Welt von Mqhekezweni drehte sich um den Regenten, meine kleinere Welt um seine zwei Kinder. Justice, sein einziger Sohn und folglich auch Erbe des Großen Platzes, und Nomafu, seine Tochter und jünger als Justice. Ich lebte mit ihnen und wurde genauso behandelt wie sie. Wir aßen die gleiche Nahrung, trugen die gleiche Kleidung, erledigten die gleichen Aufgaben. Später kam noch Nxeko hinzu, der ältere Bruder von Sabata, dem Thronerben. Wir vier bildeten eine Art königliches Quartett. Der Regent und seine Frau No-England erzogen mich, als sei ich ihr eigenes Kind. Sie sorgten sich um mich, leiteten mich an und bestraften mich auch, alles im Geist der Liebe und Gerechtigkeit. Jongintaba war streng, doch ich zweifelte nie an seiner Liebe zu mir. Sie riefen mich bei meinem Kosenamen Tatomkkulu, was »Großvater« bedeutet, weil sie fanden, daß ich mitunter, wenn ich sehr ernst dreinblickte, wie ein alter Mann aussah.
    Justice, vier Jahre älter als ich, wurde mein erster Held nach meinem Vater. Ich blickte in jeder Hinsicht zu ihm auf. Als ich nach Mqhekezweni kam, war er bereits in Clarkebury, einer rund 100 Kilometer entfernten Boardingschool. Er war groß, schön, muskulös und ein ausgezeichneter Sportsmann, der sich besonders hervortat in Leichtathletik, Cricket, Rugby und Fußball. Er besaß ein stets fröhliches und offenes Wesen und bezauberte seine Umwelt durch seine Natürlichkeit. Mit seiner prachtvollen Singstimme und seinem geschliffenen Ballsaaltanzen konnte er Menschen betören. Wie sich denken läßt, hatte er eine Schar von Verehrerinnen – aber auch eine kleine Armee von Kritikern, in deren Augen er zu sehr der Dandy und der Playboy war. Wir waren die besten Freunde, jedoch in mancherlei Hinsicht das genaue Gegenteil des anderen: Er war extrovertiert, ich eher introvertiert; er war stets unbeschwert, während ich ziemlich ernst war. Er war auf natürliche Weise geschickt und eignete sich mühelos etwas an; ich mußte üben und mich selbst drillen. Für mich war er alles, was ein junger Mann sein konnte, und alles, was ich sein wollte. Obwohl uns die gleiche Behandlung zuteil wurde, waren unsere Schicksale sehr verschieden: Justice würde eines der mächtigsten Häuptlingstümer des Thembu-Stammes erben. Ich würde erben, was immer der Regent in seiner Großmut mir zu geben beschloß.
    Jeden Tag erledigte ich im Haus des Regenten oder draußen allerlei Pflichten. Zu den vielen Dingen, die ich für den Regenten tat, gehörte das Bügeln seiner Anzüge, meine Lieblingstätigkeit, auf die ich sehr stolz war. Er besaß ein halbes Dutzend westliche Anzüge, und ich verwandte manche Stunden auf möglichst präzise Bügelfalten. Sein Palast, wenn man es so nennen will, bestand aus zwei großen, blechbedeckten Häusern im westlichen Stil. Damals besaßen nur ganz wenige Afrikaner westliche Häuser, und sie galten als Kennzeichen großen Reichtums. Außer den beiden Häusern gab es sechs Rondavels, die in einer Art Halbkreis das Haupthaus umstanden. Die Häuser hatten Holzfußböden, etwas, das ich bis dahin noch nie gesehen hatte. Der Regent und die Königin schliefen in dem Rondavel zur Rechten Hand; die
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