Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Kuß von Sentze

Der Kuß von Sentze

Titel: Der Kuß von Sentze
Autoren: Adalbert Stifter
Vom Netzwerk:
Himmels und die wundervollen Augen leuch-
    teten wie das Licht der Sonne.
    „Rupert!“ rief sie.
    „Hiltiburg!“ rief ich.
    Und mit eins hatten wir uns in den Armen und faßten
    uns und drückten die Lippen wieder aneinander, so fest
    und innig, als sollten wir sie immer und ewig nicht mehr
    voneinander trennen. Sie begann zu schluchzen, ich fühlte
    mein Wesen erbeben und schluchzte auch wie in tiefster
    Reue.
    Immer drückten wir uns wieder an das Herz und drück-
    ten die Lippen aneinander.
    Wir sagten nur die Worte: „Hiltiburg, Rupert.“
    Endlich, da ihre Augen noch in Tränen schimmerten,
    nahm ich ihre reine, schöne Hand. Sie ließ sie mir willig.
    Ich führte sie an der Hand zur Tür des Saales, bei der Tür
    hinaus und über den Gang zum Vater in das Pflanzenge-
    mach.
    Als wir vor ihm standen, blickte er uns an, sagte kein
    Wort und ein Strom von Tränen brach aus seinen Augen.
    Dann rief er: „Nach fünfundvierzig Jahren!“ Dann
    sagte er wieder nichts.
    Dann sprach er: „Ich muß deinem Vater schreiben.“
    Er ging an den Schreibtisch. Wir setzten uns auf Stühle
    nieder. Er schrieb auf ein Blatt mehrere Zeilen, dann sie-
    gelte er es und schrieb eine Aufschrift. Dann klingelte er.
    Als hierauf Dietrich gekommen war, sagte er: „Sattle ein
    Pferd und reite mit diesem Briefe auf die Post.“
    „Ich werde es tun“, sagte Dietrich.
    Als Dietrich das Zimmer verlassen hatte, sagte Wal-
    chon zu uns: „Kinder, Kinder, lasset mich jetzt allein, ge-
    het jedes in eure Kammer und danket Gott!“
    Wir verließen das Gemach.
    Als ich in meinem Zimmer saß, kam Wilhelm herein
    und sagte: „Ihr sollt Euch zur Abreise richten, ich muß mit
    dem anderen Pferde auf die Post reiten und einen Wagen
    für Euch und den Herrn und das Fräulein auf morgen früh
    nach Sonnberg bestellen.“
    „Ich werde mich richten“, sagte ich.
    Er verließ das Zimmer, und ich hatte meine Sachen
    bald gepackt. Des ganzen Nachmittages waren Vorberei-
    tungen zur Reise.
    Am andern Morgen gingen Walchon, Hiltiburg und ich
    nach dem Frühmahle nach Sonnberg. Wilhelm war schon
    dort und hielt den Wagen in Bereitschaft. Wir stiegen ein
    und fuhren in der Richtung gegen die weiße Sentze ab.
    Am zweiten Tage mittags kamen wir dort an. Der Vater
    empfing uns an dem Tore und geleitete uns in den Saal.
    Da führte Walchon Hiltiburg vor ihn und sagte: „Sie ist
    so schön wie Eveline. Sie ist nicht so, wie wir dachten, sie
    ähnelt meinem Großvater Erkambert, deinem Ahnherrn,
    der gegen die Menschen unwirsch gewesen ist und ihnen
    Gutes getan hat.“
    Mein Vater blickte den Vetter an und sagte: „Mein ge-
    liebter Walchon!“
    Walchon blickte den Vater an und sagte: „Mein geliebter
    Erkambert.“
    Dann faßten sich die zwei Männer in die Arme und
    küßten sich herzlich auf die Lippen.
    „Walchon“, sagte darauf mein Vater, „das ist doch ein
    Liebeskuß gewesen.“
    „Ja, es ist ein Liebeskuß gewesen“, entgegnete Walchon.
    Dann näherte sich mein Vater Hiltiburg, neigte seine
    Lippen gegen ihren Mund und sagte: „Erlaube, schöne
    Base!“
    Hiltiburg bot ihm den Mund, und er küßte sie.
    „Nimm diesen Kuß auch als einen Liebeskuß, meine
    rechtschaffene, meine gute Base“, sagte der Vater.
    „Ich nehme ihn, mein hochverehrter Vetter,“ antwortete
    Hiltiburg, „und werde ihn zeitlebens im Gemüte tragen.“
    Dann näherte sich der Vater mir und schüttelte mir
    treuherzig die Hand.
    „Ich habe es geahnt, als du mir die Briefe schriebst, Wal-
    chon“, sagte er dann. „Ihr habt mich mit eurer Ankunft
    überrascht, aber in der Sentze ist immer für ein Mittag-
    mahl gesorgt. Folgt mir in das Speisezimmer.“
    Wir taten es, und nach kurzem Harren ward uns ein
    Mittagessen vorgesetzt.
    Nach demselben wurde alles Gepäcke, mit Ausnahme
    des meinigen, in die rote Sentze gebracht. Boten wurden
    sogleich an Taglöhner, Maurer, Zimmerer, Schreiner und
    andere Gewerbsleute gesendet, daß sie des folgenden Tages
    Arbeiten in der roten Sentze beginnen sollten. Wilhelm
    wurde beauftragt, nach drei Tagen wieder in die graue
    Sentze zu reisen, dort alles in Ordnung zu räumen, das
    Haus zu sperren und alle, die dort sind, hieher zu bringen.
    Walchon und Hiltiburg lebten nun in der roten Sentze,
    mein Vater und ich in der weißen.
    Hiltiburg, die früher ihr Herz an Kleider gehängt hatte,
    war jetzt einfach, aber schön, und hängte ihr Herz an Wal-
    chon, an meinen Vater und an mich.
    Der zwanzigste Tag des Monates November
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher