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Der Kuß von Sentze

Der Kuß von Sentze

Titel: Der Kuß von Sentze
Autoren: Adalbert Stifter
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zurück. Ich lernte bald die Gepflogenheiten des-
    selben kennen. Dietrich ging öfters mit einem oder dem
    andern Saumrosse in die Ortschaften hinunter, um zu ho-
    len, was man brauchte. Adalo bereitete die Speisen und
    Wilhelm besorgte die andern laufenden Geschäfte. Gleich
    nach dem Aufgange der Sonne war das Frühmahl, um
    zwölf Uhr das Mittagmahl und nach dem Untergange der
    Sonne das Abendessen. Des Morgens hatte man immer
    Milch und Brot, des Mittags und Abends verschiedenes,
    aber stets nur eine Speise. In seinem Tun wurde niemand
    beirrt. Mein Vetter ging fast immer im Freien herum. Ich
    war zuweilen in seiner Gesellschaft. Wir machten uns
    nämlich gelegentlich Besuche in unseren Zimmern oder
    ergingen uns auch ein wenig in der Nähe des Hauses. Er
    sprach nur von gewöhnlichen Dingen. Über Angelegenhei-
    ten unseres Geschlechtes oder über Mitglieder desselben
    redete er gar nicht. Ich suchte auch nicht irgendeinen Ge-
    sprächsgegenstand aufzubringen. Welcher Art die Bücher
    waren, die ich in seinem Zimmer sah, strebte ich nicht
    zu ergründen, fand ihn aber öfter in einem lesen. Sonst
    war sein Benehmen ruhig und gleichmäßig. Ich bemerkte,
    daß er in seinem ledernen Täschchen, ohne welches er gar
    nie ausging, sehr oft Moose nach Hause brachte, daß er
    dieselben ordne, und daß ihm bei diesem Geschäfte alle
    seine Mitbewohner behilflich waren. Ich machte daher ei-
    nes Tages eine Tasche aus starkem Papier, ging mit der-
    selben einen ganzen Nachmittag in dem Walde herum,
    füllte sie mit Moosen, die mir besonders gefielen, und
    brachte ihm dieselben. Er leerte sie auf einem Tische aus
    und sagte: „Morgen nach dem Frühmahle werden wir sie
    untersuchen.“
    Am andern Tage ging ich nach dem Frühmahle mit ihm
    in sein Gemach. Er las die Moose Stämmchen für Stämm-
    chen auseinander und legte sie in eine Reihe. Dann sagte
    er: „Du hast eine gute Meinung, Vetter, aber du kennst die
    Sache noch nicht. Ich habe die Verwunderlichkeit dieser
    kleinen Dinge zu ergründen gesucht und bin noch lange
    zu keinem Ende gelangt. Ich habe es besonders von die-
    sem Hause aus getan, ich habe Hunderte von Arten ge-
    sammelt, ich habe die Bücher, die von ihnen handeln, habe
    mir den Gehalt derselben angeeignet; aber die Bücher und
    ich sind nicht vollkommen. Die Dinge wollen ihre eigene
    Weise. Wenn es dir gefällt, meine Anstalten zu betrach-
    ten, so tue es. Hier sind die Fächer, in denen die Moose
    nach ihrer Ordnung eingelegt sind, und hier ist das Buch,
    nach dessen Weisung die Einlage gemacht worden ist. An-
    dere Bücher schlagen andere Weisen vor. Du kannst in sie
    hineinsehen und dann urteilen, was du für zweckmäßiger
    hältst. Fast besser noch als die Einlage ist das Pressen. Wir
    pressen die Moose auf Papier ab, und sie geben ihre Ge-
    staltungen erstaunlich schön, wenngleich die Farbe nicht,
    die aber auch in den Einlagen absteht. In den Mappen hier
    findest du die Abdrücke. Willst du dich aber mit diesen
    Dingen gar nicht befassen, so bist du auch in deinem Recht,
    ich gebe dir nur die Erlaubnis dazu.“
    „Ich werde diese Erlaubnis benutzen,“ antwortete ich,
    „wenn du gestattest, Vetter, daß ich öfters dieses Zimmer
    besuche.“
    „Du darfst es besuchen“, sagte er, „und darfst dir auch
    Bücher oder Mappen in dein Gemach hinübertragen.“
    „Ich werde es tun“, sagte ich.
    Und nun blickte ich öfter in die Bücher und suchte
    mich zu unterrichten, daß ich einsichtiger verfahre, wenn
    ich ihm wieder Moose brächte. Es entstand endlich in mir
    sogar ein Anteil an der Sache. Ich sah in den Einlagen
    eine solche Zahl von Moosen, die ich nicht für möglich
    gehalten hätte; ich sah Verwandtschaften, Verbindungen
    und Übergänge. In den gepreßten Blättern sah ich die Ver-
    schwendung der Gestalten und erstaunte über die Schärfe
    und Eigentümlichkeit. In den Büchern fand ich die Bestre-
    bungen, den Verwicklungen beizukommen, vertiefte mich
    in die Bestrebungen und neigte mich bald zu dieser, bald
    zu jener Ansicht. Ich hatte oft mehrere Bücher oder Fächer
    oder Mappen meines Vetters in meinem Zimmer. Ich fand
    nun auch wirklich manches seltene Stämmchen, das der
    Vetter für seine Sammlung brauchen konnte, ja ich fand
    einmal eine Art, die er noch gar nicht hatte.
    „Siehst du,“ sagte er, „diese Wälder sind ergiebiger an
    Moosen als andere, du wirst schon noch weiter gelangen.“
    So war nun ein Band zwischen uns gefunden.
    Von dieser Zeit an sprach er nun
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