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Der Kuss des Engels: Roman (German Edition)

Der Kuss des Engels: Roman (German Edition)

Titel: Der Kuss des Engels: Roman (German Edition)
Autoren: Sarah Lukas
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Fallen, als ihr eine Unebenheit im Pflaster einen Fuß wegzog. Eine unsichtbare Hand schien sie mit einem Ruck aufzurichten.
    Eine Entschuldigung japsend, drängelte sie sich an einem Liebespaar vorbei und querte die Auffahrt zur Pont Saint-Louis, die die beiden Inseln miteinander verband. Vor ihr kam das nun in Dunkelheit gehüllte Heck wieder in Sicht, auf dem sich die drei Gestalten nur mehr erahnen ließen. Sie konnte nicht einmal mit Sicherheit sagen, ob es noch drei Männer waren.
    Im Licht der Straßenlaternen entdeckte sie den mit Sitzbänken versehenen Aussichtspunkt, der das Ende der Île Saint-Louis markierte, und erkannte siedend heiß ihren Fehler. Um das Schiff weiter verfolgen zu können, hätte sie über die Brücke auf die Île de la Cité wechseln müssen. Auf zitternden Beinen kam sie hinter dem Bogen der Kaimauer zum Stehen. Ihr Atem pfiff, und das Herz hämmerte von innen gegen die Rippen wie eine Faust. Niemals hätte sie das Schiff wieder einholen können, selbst wenn sie die richtige Abzweigung genommen hätte. Keuchend beobachtete sie, wie es um die gegenüberliegende Insel bog und hinter der stählernen Pont d’Arcole entschwand.

    Als sie sich die letzten ausgetretenen Stufen in den vierten Stock hinaufschleppte, konnte Sophie kaum mehr die Füße heben. Sie war so erschöpft, dass sie nur noch unter ihre Decken kriechen und die Augen schließen wollte. Hoffentlich schläft Madame Guimard schon. So leise wie möglich steckte sie den Schlüssel ins Schloss und öffnete die alte, mit Schnitzwerk verzierte Tür, die prompt in den Angeln quietschte. Das Parkett im hell erleuchteten Flur knarrte unter ihren Schritten, als biege es sich unter dem Gewicht eines Nilpferds. Sophie verdrehte die Augen. So viel zum unbemerkten Ins-Bett-Schleichen.
    Es war nach Mitternacht, doch aus dem Wohnzimmer, das Madame Guimard ihren Salon nannte, drang gedämpfte klassische Musik. Jeden Abend hörte die alte Dame ihre beinahe ebenso betagten Schallplatten, deren vergilbte, abgegriffene Hüllen kaum noch verrieten, um welche Komponisten oder Werke es sich handelte. Sophie schälte sich vor der Garderobe aus ihrer nassen Jacke und zerrte ihre Füße aus den Sneakern, ohne die Schnürsenkel zu öffnen. Sie fürchtete, vor Entkräftung umzufallen, wenn sie sich bückte.
    »Dank des Regens kommt heute Abend eine herrliche Luft herein«, ließ sich Madame Guimard durch die angelehnte Tür vernehmen.
    Sophie seufzte im Stillen. Ihre Vermieterin hätte sich niemals aufgedrängt, indem sie ihr im Flur auflauerte, um sie nach ihrem Tag zu fragen, doch mit ihren subtileren Mitteln erreichte sie denselben Effekt. Da die Höflichkeit gebot, sie nicht zu ignorieren, rang sich Sophie ein Lächeln ab und betrat den Salon. »Bonsoir, Madame.«
    Im ersten Moment sah sie nur, was das einfallende Flurlicht beleuchtete. Jenseits dieses hellen Ausschnitts lag der Raum in Dunkelheit.
    »Lehn die Tür wieder an, Mädchen. Du lockst mir die Motten herein.«
    Insgeheim seufzte Sophie ein zweites Mal und befolgte die Anweisung. Ich hätte einfach »Gute Nacht« sagen und vorbeigehen sollen, bedauerte sie, doch sie war so müde, dass ihr die Kraft für so entschlossenes Handeln fehlte.
    Allmählich gewöhnten sich ihre Augen an das Zwielicht der zwei Stockwerke tiefer leuchtenden Straßenlaternen. Sie konnte die hohe Stuckdecke über sich erahnen und die Umrisse der Möbel vor den mit Stoff tapezierten Wänden. Nippes und Fotorahmen spiegelten das wenige Licht. Madame Guimard saß auf einem ihrer samtbezogenen Sessel am offenen Fenster, das bis zum Boden reichte und mit einer Brüstung aus verschlungenem schwarzem Eisengitter gesichert war. Gegen die kühle Nachtluft hatte sie eine Ajour-Strickjacke übergezogen und hielt sich Tee auf einem Stövchen warm. »Setz dich doch!« Einladend wies sie auf den Sessel jenseits des kleinen Beistelltischs. »Hattest du …« Sie unterbrach sich selbst, als Sophie näher kam, und hob überrascht die perfekt gezupften, dezent nachgezogenen Brauen. »Setz dich!«, wiederholte sie, bevor sie aufstand. Für eine alte Frau war sie schlank und hielt sich noch sehr gerade.
    Steif nahm Sophie auf dem Sessel Platz, dessen Federn sich bereits spürbar durch das Polster drückten. In dieser Wohnung gab es wenig, das nicht seit mindestens dreißig Jahren in Gebrauch war.
    Madame Guimard brachte aus einem Vitrinenschrank ein weiteres Teegedeck aus hauchdünnem Porzellan zum Vorschein und stellte es vor Sophie
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