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Der Kuss des Engels: Roman (German Edition)

Der Kuss des Engels: Roman (German Edition)

Titel: Der Kuss des Engels: Roman (German Edition)
Autoren: Sarah Lukas
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seit Monaten ihr treuester Begleiter war – seit dem Anruf, der ihr Leben mit einem Schlag zertrümmert hatte. Das schwindende Adrenalin ließ sie müde und ausgelaugt zurück, und aus der klammen Jacke kroch Kälte unter ihre Haut. Ihr Mund war trocken, die Zähne von Zucker und Erdbeersaft pelzig. Ich bin ein Wrack. Was mache ich überhaupt hier? Ich sollte längst zu Hause sein.
    Zu Hause. Paris war nicht ihr Zuhause. Auch die leere Wohnung in Stuttgart nicht. Es gab keinen Ort mehr, an den sie gehörte. Ihre Eltern mochten das anders sehen, aber was wussten sie schon? Sie verstanden nicht, dass ihre Heimat an Rafaels Seite gewesen war. Weder ein Zimmer in Stuttgart-Hedelfingen noch im Quartier Latin konnte das jemals ersetzen. Paris, die Lichter, die Gerüche aus den Bistros, das Johlen und Lachen, die verliebten Paare … ihr war, als könne sie das alles nicht länger ertragen. Hektische Dancefloorbeats aus einem Club, magenerschütternde Bässe durch die Scheiben eines vorbeifahrenden Autos, das fröhliche Trällern eines französischen Schlagersängers … Sie versuchte, nichts mehr zu hören, nichts mehr zu sehen, doch das war wohl nur den Toten vergönnt.
    Klavierklänge schlichen sich beinahe unbemerkt in ihre Ohren, bevor sie ihre Schritte beschleunigte, um den folgenden Gitarrenriffs zu entkommen, die aus einer weiteren Bar dröhnten. Vom Ufer der Seine, wo tagsüber die letzten Vorbereitungen für die künstlichen Strände des Sommers im Gange waren, drangen afrikanische Trommelrhythmen durch die Bäume herauf. Sophie floh über die Pont Marie auf die Île Saint-Louis, die der einzige Ruhepol dieser vergnügungssüchtigen Stadt zu sein schien.
    Endlich wurde es leiser um sie, und das gehetzte Gefühl fiel von ihr ab. Ihre Gedanken wirbelten noch immer haltlos umher, doch sie brüllten nicht mehr, um über den äußeren Lärm hinweg Gehör zu finden. Erneut perlte das Klavier hinein, dieses Mal aus ihrem Gedächtnis, eine melancholische Abfolge von vier Tönen. Die inneren Stimmen verstummten, die Töne wiederholten sich. Sie erinnerte sich an das Lied, die Melodie, hörte den Sänger säuseln. Baby, join me in death. Der Song war ein Ohrwurm gewesen. Sie hatte ihn gemocht, obwohl der Text sie irritiert hatte. Nun fiel er ihr nach und nach wieder ein. Mit jedem Schritt, den sie sich der Brücke auf der anderen Seite der Insel näherte, kehrten weitere Passagen zurück. This world is a cruel place. We’re here only to lose. Damals hatte sie es für übertrieben gehalten. Ich hatte keine Ahnung. Ich hatte noch nichts verloren.
    Der Sänger, dessen Namen sie vergessen hatte, heulte Schmerz und Sehnsucht hinaus. Trog ihr Gedächtnis, oder sah er Rafael sogar ein wenig ähnlich? Nicht, dass Rafe je so ausgezehrt ausgesehen oder sich geschminkt hätte, aber entfernt …
    Before life tears us apart, let death bless me with you. Wie hatte sie zulassen können, dass das Leben sie auseinanderriss? Warum war sie nicht mit ihm gestorben, als die tödlichen Kugeln getroffen hatten? Sie hatten sich versprochen, für immer zusammenzubleiben, und doch hatte sie ihn allein reisen lassen. Vielleicht wäre er noch am Leben, vielleicht hätte er mit ihr an jenem Tag eine andere Route genommen oder das abgelegene Dorf gar nicht erst verlassen. Vielleicht …
    Sie trat aus dem Schatten der Häuser und überquerte die baumgesäumte Uferstraße. Jenseits der Brücke leuchteten ihr die Lichter des Quartier Latin entgegen, doch auf dieser Seite der Pont de la Tournelle war kaum etwas vom fernen Nachtleben zu hören. Dunkel und träge flossen die Wasser der Seine dahin, als ob auch sie nach Sonnenuntergang müde würden und Träumen von stillen Wäldern und Hügeln nachhingen. Das helle, nasse Gestein des Brückengeländers war kalt unter ihren Händen, doch sie spürte es kaum. Es kam nicht mehr darauf an. This life ain’t worth living. So won’t you die?
    Schritte hinter ihr ließen ihren Atem stocken. Sie erstarrte, aber wer es auch war, ging nur vorüber. Die Schritte entfernten sich.
    Sophie hob den Blick und sah die erleuchtete Stadt, die sich im Fluss spiegelte. Wie herrlich hatte sie das nächtliche Paris bei ihrem ersten Besuch empfunden. Doch damals war Rafe bei ihr gewesen. Jetzt ließ die Schönheit sie so kalt wie das Gestein unter ihren Fingern. Die Spitze des Eiffelturms war nur ein bedeutungsloses Relikt, die Notre-Dame irgendein Bauwerk aus längst vergangener Zeit. Wollte sie sterben? Baby, join me in
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