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Der Kuss des Engels: Roman (German Edition)

Der Kuss des Engels: Roman (German Edition)

Titel: Der Kuss des Engels: Roman (German Edition)
Autoren: Sarah Lukas
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ihn so deutlich, dass sich ihr Herz schmerzhaft zusammenzog. Er trug seine Brille anstelle der Kontaktlinsen, um unter den Studenten der Sorbonne, die dieses Café gern besuchten, intellektueller zu wirken. Sie hatte gelacht, als sie ihm auf die Schliche gekommen war, und er hatte ausgelassen eingestimmt. Nichts hätte ihm an jenem Tag die Stimmung verderben können, das wusste sie. Er war glücklich gewesen, weil sie seinen Heiratsantrag angenommen hatte – oben auf dem Rundgang um die weiße Kuppel von Sacré-Cœur, das Häusermeer von Paris zu ihren Füßen und den Sommerwind in ihrem Haar. Selbst durch das Brillengestell und die Gläser, die seine Augen ein wenig verkleinerten, hatte sein Lächeln so viel Liebe ausgestrahlt, dass es sie jetzt noch wärmte. Sie spürte ihre Mundwinkel sich wie von selbst aufwärts biegen, als sei ihr Gesicht ein Spiegelbild dessen, was die Erinnerung ihr vorgaukelte.
    »Un café?« Ein Kellner, der die weiße Schürze lässig um die Hüfte geschlungen hatte wie ein Handtuch nach dem Duschen, schob sich zwischen sie und den Stuhl, der nun wieder leer im ansonsten voll besetzten Lokal stand. Der Anblick wischte das Lächeln von ihren Lippen.
    »Non, merci.« Sophie sah zu dem jungen Asiaten auf, ohne ihn wirklich wahrzunehmen. Ein Kaffee hätte sie geweckt, ihre Gedanken geklärt, ihr die Wahrheit mit einer Schärfe bewusst gemacht, der sie sich nicht gewachsen fühlte. »Die Rechnung, bitte.«
    »Natürlich«, erwiderte der Kellner, während er mit geübten Griffen Teller und Besteck auf das bereits waghalsig auf seinem Arm verteilte Geschirr stapelte und in einem Triumph über die Schwerkraft davontrug. Er hatte es nüchtern gesagt, aber Sophies Ohren war der missbilligende Unterton nicht verborgen geblieben. Die Ablehnung, das Unverständnis, die dahinter standen, hätte sie an jedem anderen Abend mit einem Schulterzucken abgetan, doch jetzt drangen sie wie ein giftiger Stachel in ihre schutzlose, wunde Seele. Unwillkürlich ließ sie Kopf und Schultern hängen, während sie sich tiefer in ihr Inneres zurückzog. Es gab auf dieser Welt einfach keinen Platz mehr für sie. Niemand begriff, was sie verloren hatte, nicht einmal ihre Mutter. Am allerwenigsten ihre Mutter. Sie hatte Rafael nie gemocht.
    Wortlos stellte der Kellner im Vorübergehen den kleinen Teller mit dem Kassenbon auf dem Tisch ab. Mechanisch kramte Sophie ihr Portemonnaie aus der Jackentasche und legte das abgezählte Kleingeld auf die Scheine, damit sie nicht heruntergeweht werden konnten. Sie war nun lange genug in Paris, um sich wieder an die Tücken des französischen Alltags zu erinnern, die sie als Ausländerin verraten konnten. Nicht, dass es darauf angekommen wäre, unerkannt zu bleiben, aber als Fremdsprachenkorrespondentin hatte sie den Ehrgeiz, Land und Leute so gut zu kennen, dass sie nicht als Deutsche auffiel. Täglich besuchte sie die Sprachschule, um jeden Rest eines Akzents abzustreifen.
    Eine Französin hätte Kaffee getrunken, dachte sie melancholisch und stand auf. Der Kellner nickte ihr zu, während sie sich zwischen den Gästen hindurchschlängelte, die die viel zu kleinen, viel zu eng aufgestellten Tische umlagerten. Selbst wenn er ihr noch einen Gruß zugerufen hätte, wäre seine Stimme im Lärm der Menge untergegangen. Sophie erwiderte die Geste mit einem erzwungenen Lächeln und ging hinaus.
    Obwohl die Tür des Cafés offen stand, war die Luft auf der Straße spürbar frischer. Regen hatte Hitze und Staub des hektischen Julitags in den Rinnstein gewaschen und davongeschwemmt. Fröstelnd sah Sophie auf. Ihr Blick glitt an den Fassaden der hohen, grauen Häuser empor, denen verschnörkelte, schmiedeeiserne Balkongeländer nur wenig von ihrer Strenge nahmen. Darüber gaben Dächer und Kamine die Sicht auf einen wolkenschwarzen Streifen Nachthimmel frei, aus dem noch immer vereinzelte Tropfen fielen. Nasses Laub glitzerte, wo der Schein der Straßenlaternen auf die Bäume traf, die den Boulevard Saint-Michel flankierten, doch jenseits des Lichts verschwammen die Blätter zu umso dunkleren Schattengebilden.
    Sophie blinzelte erschreckt, als ein dicker, kalter Tropfen auf ihre Wange klatschte. Wie Tränen rann das versprengte Wasser hinab. Als ob sie nicht genug geweint hätte. Als ob sie jemals damit aufhören würde …
    Neue Gäste, die auf die Tür des Cafés zusteuerten, starrten sie neugierig an. Errötend gab sie ihnen den Weg frei, so gut es zwischen den aufgestapelten Tischen und
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