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Der Kuss des Engels: Roman (German Edition)

Der Kuss des Engels: Roman (German Edition)

Titel: Der Kuss des Engels: Roman (German Edition)
Autoren: Sarah Lukas
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drangen, reihten sich aneinander, unterbrochen von Hauseingängen und den bunten Fassaden kleiner Geschäfte. Motorroller parkten auf den Gehsteigen, sodass es viele Passanten zu dieser Stunde vorzogen, in der Mitte der gepflasterten Gasse zu laufen. Im Licht der altmodischen Straßenlaternen eilten schrill gekleidete Gestalten lachend durch die Nacht. Andere, weniger auffällige Frauen und Männer hasteten an Sophie vorüber und hielten sich Zeitungen oder große Handtaschen über die Köpfe. Nur zwei junge Männer, die eng umschlungen neben dem Eingang eines Clubs standen, schienen sich nicht am Regen zu stören. Doch auch ohne die beiden hatte Sophie bemerkt, dass sie sich inzwischen im Marais befand, dem schillernden Viertel, das bei Lesben und Schwulen so beliebt war. Demnach hatte sie sich wenigstens nicht völlig verlaufen.
    Schon an der nächsten Ecke erkannte sie einige Läden wieder und schlug erleichtert den Weg zur Rue Vieille du Temple ein. Es konnte nicht mehr weit sein. Wie hieß die Bar doch gleich? Les Etrangères? Les Equipages? Sophie beschleunigte ihre Schritte, bog in die von Boutiquen, Kunstgalerien und alten Geschäften gesäumte Straße ab und hielt nach dem hellen, schmalen Haus Ausschau, das Francesca ihr beschrieben hatte.
    Les Étages. Natürlich! Tereza hatte doch erzählt, dass sich die Bar über drei Stockwerke erstreckte. Durch die offenen Türen fiel Licht und spiegelte sich schimmernd in den Pfützen auf dem Bürgersteig. Aus ihrem Blickwinkel konnte Sophie nicht sehen, was sich hinter den hohen Fenstern der oberen Etagen verbarg, aber sie war nicht neugierig. Seit Rafes Tod sah für sie eine Bar wie die andere aus.
    Mit einem gemurmelten »Pardon« drängte sie sich an einer Gruppe junger Leute vorbei, die angesichts des Regens zögerten hinauszugehen. Dahinter fand sie kaum mehr Platz, um die mittlerweile vollgesogene Jacke auszuziehen. Warme, parfüm- und schweißgesättigte Luft schlug ihr entgegen, vermengt mit dem Geruch von Wein, Gewürzen und Gebratenem. Cocktails fügten der Mischung süße und hochprozentigere Noten hinzu, während ein Tablett mit Tapas, das eine Kellnerin vor ihr hertrug, einen Hauch von Salz und Oliven verströmte. An den Tischen wurde lauthals erzählt, diskutiert, gelacht; Stimmen und Hintergrundmusik verbanden sich zu einem sinnentleerten Brabbeln und Lärmen. Sophie blendete es aus, während ihr Blick über die Gäste schweifte. Weit und breit war nichts von Francesca und Tereza zu sehen, also stieg sie die Treppe hinauf.
    Auch dort ging es laut und fröhlich zu, obgleich das Lokal leerer wirkte als unten. Die Happy Hour war vorüber, aber für echte Nachtschwärmer mochte es noch zu früh sein, hoffte Sophie, als sie wieder kein bekanntes Gesicht entdeckte. Einige Gäste nahmen ihren suchenden Blick wahr und sahen fragend auf, bis sie merkten, dass Sophies Aufmerksamkeit nicht ihnen galt. Mit jedem Augenpaar, das sich abwandte, fühlte sie sich fremder und einsamer als zuvor, obwohl sie gar nicht angesprochen werden wollte.
    Halbherzig setzte sie ihren Rundgang fort, doch auch in der obersten Etage hatte sie keinen Erfolg. Am liebsten wäre sie nach Hause gegangen, hätte sich wie so oft in ihrem kleinen Zimmer verkrochen und darauf gewartet, über bittersüßen Erinnerungen einzuschlafen. Aber dazu hätte sie sich aufraffen müssen, wieder in den Regen hinauszugehen. Vielleicht sollte sie doch lieber noch eine Weile auf ihre Freundinnen warten. Sie bestellte den angeblich legendären Erdbeer-Mojito, von dem Tereza geschwärmt hatte, und setzte sich an einen kleinen, freien Tisch, von dem aus sie die Treppe im Auge behalten konnte.
    Sophie versuchte so zu wirken, als sei es für sie vollkommen selbstverständlich, spätabends allein in einer Bar zu sitzen und einen Cocktail zu schlürfen. Sie war sicher, dass es ihr gänzlich misslang. Immer wieder ertappte sie sich dabei, wie sie mit den Fingern ihr schulterlanges Haar auflockerte, das die feuchte Kapuze platt gedrückt hatte. Warum konnte sie nicht souverän und entrückt aussehen wie eine Hollywooddiva in einem tragischen Film?
    Weil Tragik im wahren Leben nur verschmierte Mascara und die Ausstrahlung eines tristen Regentags bedeutet. Sie nippte an ihrem Drink und rührte mit dem Strohhalm im Eis herum. Die zuckrige Brühe klebte an den Zähnen, ganz gleich, wie oft sie mit der Zunge darüberfuhr. Dass sie dabei Lippen und Kinn verzog, wurde ihr erst bewusst, als sie sich plötzlich beobachtet
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