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Der Kuss des Engels: Roman (German Edition)

Der Kuss des Engels: Roman (German Edition)

Titel: Der Kuss des Engels: Roman (German Edition)
Autoren: Sarah Lukas
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ab, um ihr einzuschenken. »Trink das, Mädchen, und nimm reichlich Milch dazu!«
    Sophie griff nach dem Kännchen, während sich die alte Dame wieder auf ihrem Sessel niederließ. Verwundert über das einsetzende Schweigen gab sie einen großzügigen Schuss Milch in ihre Tasse und rührte um, doch Madame Guimard sah wieder aus dem Fenster. Ein wenig enttäuscht nippte Sophie an ihrem Tee. Interessierte es Madame Guimard überhaupt nicht, was sie so aufgewühlt hatte, dass man es ihr selbst in diesem Dämmerlicht ansah? Aber vielleicht wollte sie einfach nur diskret sein. Es ist besser so. Sie würde mir ohnehin nicht glauben. Niemand würde das. Sie wusste nicht einmal, ob sie es selbst glauben sollte. Wieder sah sie das Gesicht im Schein der Feuerzeugflamme, und die Sehnsucht schnürte ihr die Brust zusammen.
    Müdigkeit und die Wärme des Tees lullten sie ein. Eine Weile schwelgte sie zu den leisen Streicherklängen in Erinnerungen an Rafaels Lächeln. Wie schön es wäre, es nur einmal wiederzusehen. Der Mann auf dem Schiff hatte nicht gelächelt, aber wenn es Rafael war, würde er es bei ihrem Anblick sicherlich tun. »Ich habe meinen Verlobten gesehen«, sagte sie wie zu sich selbst.
    Erneut hob Madame Guimard die Brauen. »Deinen Verlobten? Sagtest du nicht, er sei gestorben?«
    Sophie zuckte beim letzten Wort innerlich zusammen. »Ja.« Unwillkürlich richtete sie sich auf. »Aber ich habe ihn gesehen! Gerade eben! Als ich auf der Pont de la Tournelle stand.« Die Erinnerung an ihren Wunsch, sich in die Seine zu stürzen, ließ sie einen Moment lang verstummen. »Er war auf einem Schiff, das unter mir vorüberfuhr.«
    Madame Guimard sah sie einen Augenblick zweifelnd an, dann mischten sich Besorgnis und Mitleid in ihren Zügen. »Sophie.«
    Der zugleich mitfühlende und ermahnende Tonfall versetzte Sophie einen Stich.
    »Wenn wir geliebte Menschen verlieren, glaubt unser Herz ständig, sie in fremden Gesichtern wiederzuerkennen, weil wir sie uns so sehr zurückwünschen. Eine gewisse Ähnlichkeit genügt, und schon lassen wir uns nur zu gern täuschen.«
    Nein, nein, nein, nein, nein. »Ich habe ihn gesehen. Ich konnte sein Gesicht genau erkennen.«
    »Sophie.« Die Stimme klang ein wenig strenger. »Es war dunkel. Licht und Schatten spielen uns bei Nacht seltsame Streiche. Wie viele Meter war der Mann von dir entfernt? Zehn? Fünfzehn? Dein Wunsch hat dir vorgegaukelt, was du sehen wolltest.«
    Trotzig schüttelte Sophie den Kopf, doch sie wusste nichts zu erwidern. Sie selbst hätte einer Freundin in der gleichen Situation nichts anderes erzählt. Aber ich weiß, was ich gesehen habe.
    »Schlaf erst einmal darüber, Mädchen. Viele Männer sehen bei Tageslicht ganz anders aus als in der Nacht zuvor.«

    Der kleine Hund lag zusammengerollt auf einem fleckigen Stück Karton, das unter seinem schlafenden Herrchen hervorragte, und hatte die Schnauze mit seinem struppigen Schwanz bedeckt wie ein Husky im arktischen Winter. Mit seinen fest geschlossenen Augen schien er in der morgendlichen Hektik am Boulevard Saint-Michel so entrückt, als stamme er aus einer anderen Welt, einer Paralleldimension zu Paris, in der es weder stinkende Dieselmotoren und fluchende LKW-Fahrer noch gehetzte Gesichter und rasende Motorräder gab. Sophies Herz flog ihm zu, während der Anblick des gesichtslosen Menschenbündels neben ihm eher vages Entsetzen in ihr hervorrief. Sie wusste nicht, was sie von den Clochards halten sollte, die erschreckend zahlreich am Spülsaum der täglichen Menschenströme lagen und in ihrer komatösen Reglosigkeit an Leichen erinnerten.
    Schaudernd schüttelte Sophie das Bild des niedergeschossenen Rafaels ab, das sich ihr plötzlich aufdrängte. Es war ein Phantasiegebilde. Sie hatte nie ein Foto vom Tatort gesehen, geschweige denn Rafes Leichnam. Schon den geschlossenen Sarg vor sich zu haben und ihn sich darin vorzustellen, hatte sie bei der Trauerfeier schier zerrissen. Das laute Schluchzen war ihrer Mutter peinlich gewesen. Anfangs wäre sie selbst am liebsten vor Scham im Boden versunken, denn sie scheute davor zurück, in der Öffentlichkeit hemmungslos Gefühle zu zeigen. Doch je mehr sie versucht hatte, das Schluchzen zu unterdrücken, desto heftiger hatte es ihren Körper gebeutelt, bis es ihr vollkommen gleichgültig gewesen war, was irgendjemand über sie denken mochte.
    Sophie würgte den Klumpen zurück, den die Erinnerung in ihre Kehle drückte. Das gestern Abend könnte alles verändern,
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