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Der Kuss der Sirene

Der Kuss der Sirene

Titel: Der Kuss der Sirene
Autoren: Mandy Hubbard
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Fernseher wieder ein. »Klingt gut.«
    Ich hole die Insulinflasche aus der Kühlung, dann gehe ich zum Schrank und nehme einen Karton Spritzen, eine Schere und eine Rolle Pflaster heraus. Ich trage alles zu dem kleinen Esszimmertisch hinüber, wo auch mein Rucksack steht. Ich greife in die vordere Reißverschlusstasche und ziehe eine laminierte Tabelle hervor.
    Ich lege die Tabelle – das Periodensystem der Elemente – auf den Tisch. Ich habe die Hälfte des letzten Monats damit verbracht, mich auf den Leistungskurs Chemie vorzubereiten. Wir müssen das Periodensystem zwar nicht auswendig kennen, aber ich versuche trotzdem, es mir einzuprägen. Das wird mir später sicher helfen.
    Fachwissen, Bücher, Schule. Ich fülle meinen Kopf mit Fakten und Informationen, um nicht verrückt zu werden. Nachdem ich ein paar Minuten lang auf die Tabelle gestarrt habe, sehe ich weg und flüstere die Namen der Elemente immer wieder vor mich hin: Stickstoff, Phosphor, Arsen, Antimon, Bismut, Ununpentium . Die fünfzehnte Spalte.
    Vorsichtig schneide ich sieben Stückchen Pflaster ab. Ich beschrifte sie mit den Wochentagen. Dann nehme ich die Spritzen und fülle sie mit jeweils vierzig Milliliter Insulin, der täglichen Dosis meiner Großmutter. Ich beklebe jede Spritze mit dem Pflaster und stehe auf. Stickstoff, Phosphor, Arsen …
    Den Rest habe ich schon wieder vergessen. Ich lege die Spritzen in die leere Schachtel im obersten Fach des alten Kühlschranks. Dann starre ich hinein, während ich mit den Fingernägeln an die Tür klopfe, und hole schließlich ein Stück Parmesan und ein paar grüne Paprikaschoten heraus. Meine Gedanken wenden sich den einfachen Dingen des Lebens zu, denn wenigstens die kann ich kontrollieren.
    Ich setze Wasser auf, schneide die Paprika klein und höre, wie im Nebenraum Wer wird Millionär? läuft.
    Meine Füße beginnen bereits zu brennen, aber es ist noch zu früh fürs Schwimmen. Ich weiß nicht, woran es liegt, aber wenn es draußen noch hell ist, fühlt sich die Schwimmerei unbefriedigend an. Ich schaue kurz auf die Uhr. Noch drei Stunden.
    Die Fahrt zum See dauert unerträglich lang. Er liegt außerhalb der Stadt, und ich könnte ihn in fünfzehn Minuten erreichen, wenn die Straße gepflastert wäre. Doch leider führt nur eine alte Holzabfuhrpiste dorthin. Sie ist mit Kies aufgefüllt und voll ausgefahrener Spurrillen und Pfützen. Mein Toyota heult auf, während ich ihn in der Dunkelheit den Berg hinauflenke. Überall um mich herum stehen jene alten Zedern, denen unsere Stadt ihren Namen verdankt. Es nieselt leicht und die Scheibenwischer gleiten in gleichmäßigen Intervallen über die verschmutzte Windschutzscheibe.
    Das Radio in meinem Wagen ist schon lange kaputt, die einzige Musik, die mich jede Nacht auf der Fahrt zu meinem See begleitet, ist das Knirschen der Reifen auf dem alten Kiesbett und das Quietschen der abgenutzten Stoßdämpfer. Als ich zum ersten Mal in der schweigenden Dunkelheit so weit gefahren bin, war mir das unheimlich. Aber inzwischen habe ich mich daran gewöhnt.
    Ich parke meinen Wagen im Schatten einer großen Tanne. Heute Nacht ist der Mond von Wolken verhüllt und es nieselt immer noch, als ich aussteige. Ich schlüpfe in eine alte Fleecejacke und ziehe den Reißverschluss bis zum Kinn hoch. Selbst ohne Taschenlampe steuere ich problemlos den vertrauten Pfad entlang. Blätter und Zweige rascheln unter meinen ausgetretenen Wanderschuhen. Meine Knie tun weh, als ich über den Stamm einer umgestürzten Kiefer klettere. Noch ein paar Minuten, dann werden die Schmerzen verschwinden.
    Durch das Blätterdach des immergrünen Waldes fällt kein Regen. Ich öffne den Reißverschluss meiner Jacke ein wenig und atme ein paarmal tief ein. Ich schaue zu den Ästen der Bäume hinauf und entdecke einige Sterne. Der leicht süßliche, modrige Duft einer umgestürzten Fichte empfängt mich.
    Endlich betrete ich die kleine Lichtung, die meinen See umgibt. Als ich unter den Ästen hervortrete, nieselt der Regen wieder auf mich herab. Ich bleibe am Rand des Ufers stehen und sehe mich um. Ich lausche angestrengt, ob irgendwelche knackenden Zweige oder raschelnden Blätter zu hören sind, doch ich nehme nur die natürlichen Geräusche des Waldes wahr. Ich ziehe mich aus und hänge die Sachen an denselben Ast wie immer.
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