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Der Kuss der Sirene

Der Kuss der Sirene

Titel: Der Kuss der Sirene
Autoren: Mandy Hubbard
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Als ich endlich einen Fuß ins Wasser tauche, seufze ich. Das kalte Nass umspült meine Knöchel und schon lösen sich die Schmerzen auf.
    Vielleicht gefällt Cole der See ja nicht. Vielleicht kommt er nie mehr hierher zurück.
    Ich wate tiefer in den See hinein, und als mir das Wasser bis zur Hüfte reicht, tauche ich ganz unter. Sofort lockern sich meine Muskeln und mein Rücken entspannt sich. In diesem Moment kommt mir das Gletscherwasser wie ein warmes Schaumbad vor. Alles, was heute passiert ist, wird mit jedem Schwimmzug davongetragen.
    Zuerst schwimme ich immer ein paar große Runden unter Wasser. Ich halte fast zehn Minuten die Luft an, bevor ich wieder auftauchen muss.
    Aus dem richtigen Blickwinkel kann man meine Haut bei Mondlicht im Wasser schimmern sehen. Ich sende ein schillerndes Leuchten aus, wenn ich durch den See gleite. Ich bin nicht wie Arielle in Die kleine Meerjungfrau . Ich habe keinen Fischschwanz oder so etwas. Aber manchmal streifen meine Hände beim Schwimmen meine Beine, die sich dann ganz glitschig anfühlen, als hätte ich Fischschuppen.
    Tagsüber ist alles ganz anders. Ich kann zwar auch den Atem lange anhalten, aber meine Haut wird nicht glitschig und ich spüre nicht dieselbe Erleichterung.
    Ich wünschte, ich wüsste, warum ich mich so sehr nach dem Wasser sehne, warum ich bin, wie ich bin. Aber ich weiß es nicht. Die einzige Person, die es mir hätte erklären können, hat mich vor sechs Jahren verlassen. Als meine Mutter damals starb, erfuhr ich nur, dass sie ertrunken war. Mehr hat Grandma mir nicht erzählt. In den folgenden Jahren wurde die Anziehungskraft des Wassers immer stärker und ich dachte, es läge daran, dass die Erinnerungen an meine Mutter untrennbar mit dem Meer verbunden waren.
    Ich verbrachte Stunden damit, ziellos am Strand entlangzuwandern. Ich wollte einfach in der Nähe des Meeres sein. Und dann ereignete sich die furchtbare Katastrophe an meinem sechzehnten Geburtstag. Nach diesem Vorfall, nachdem ich das erste Mal geschwommen war, nachdem ich einen Menschen getötet hatte, zweifelte ich an der Geschichte über den Tod meiner Mutter. Ich fand auch schnell heraus, was wirklich passiert war. Ich musste nur kurz im Internet recherchieren – und plötzlich erschien sie mir wie eine andere Person.
    Ihr Tod war kein Unfall. Ihre Füße waren an einen Betonstein gebunden gewesen. In den meisten Zeitungen war von Selbstmord die Rede, und obwohl es mir schwerfiel, glaubte ich daran.
    In den Artikeln wurde auch ein weiterer Ertrunkener erwähnt: Greg Roberts, ihr damaliger Freund. Aber Greg war nicht bei ihr gewesen. Er starb mindestens zwölf Stunden vor ihr, eine halbe Meile die Küste runter.
    Ich kannte Greg nicht besonders gut. Bisher hatte ich geglaubt, er hätte an dem Tag, als meine Mum starb, in einer Anwandlung tiefer Trauer die Stadt verlassen. Er war erst ein Jahr mit ihr zusammen gewesen, aber ihre Beziehung hatte sehr innig gewirkt. Das hatte ich sogar mit meinen zwölf Jahren verstanden. Und nach dem, was mit Steven passiert ist, habe ich eine Vermutung, wie Greg umgekommen ist.
    Ich wünschte, Mum wäre noch hier. Ich wünschte, sie wäre hier und würde mir sagen, was ich bin und was mich in den nächsten Jahren erwartet.
    Während ich schwimme, befreit sich mein Geist von allen Gedanken. Ich tauche auf und das Lied – das eine Lied, dass ich jede Nacht singe – sprudelt aus meiner Kehle, als würde ich eine geschüttelte Flasche Selters öffnen. Es ist eine eindringliche Melodie ohne Worte, die tief aus meinem Inneren kommt und die ich nicht kontrollieren kann. Meine Arme rudern stetig weiter, all meine Muskeln arbeiten, bis ich mich so schnell durchs Wasser bewege, dass ich sogar einen Weltklasseschwimmer überholen könnte.
    Sobald ich meinen Rhythmus gefunden habe, schalte ich völlig ab. Es ist wie Schlafen, denn die Stunden ziehen ohne einen bewussten Gedanken an mir vorbei. Erst im Morgengrauen kehrt die Welt wieder in mein Bewusstsein zurück. Ich fühle mich erfrischt und beschwingt, bereit, den neuen Tag zu begrüßen.
    Als ich in der Morgendämmerung aus dem Wasser klettere, versinken meine Zehen im schlammigen Ufer. Der weiche, matschige Boden fühlt sich gut unter meinen Füßen an.
    Doch kurz darauf sind meine Füße kalt. Heute sind es kaum fünf Grad, ungewöhnlich frisch für September. In
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