Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Kuß der Schlange

Der Kuß der Schlange

Titel: Der Kuß der Schlange
Autoren: Ruth Rendell
Vom Netzwerk:
die Nacht bei der Frau zu verbringen oder sie mit zu sich zu nehmen. Jetzt wusch er sich vielleicht gerade an dem Ausguß des schäbigen kleinen Zimmers, nahm einen Anzug aus seinem uralten Schrank, rasierte sich, bevor er seinen Rasierapparat in dem kleinen Handkoffer verstaute, den er mit ins Flugzeug nehmen würde. Wexford sah das rote, granitene Gesicht vor sich, das schüttere, schwarze Haar, mit nassem Kamm zurückgestriegelt. Jetzt warf Hathall einen letzten Blick auf die winzige Zelle, die für neun Monate sein Zuhause gewesen war, und dachte dabei wahrscheinlich voller Vorfreude an das Zuhause, das ihn erwartete. Und jetzt hinüber in die Telefonzelle, beim ersten, winterlichen Tagesgrauen, um sicherheitshalber beim Flughafen wegen seines Fluges rückzufragen, dabei würde er natürlich das Mädchen, mit dem er sprach, herunterputzen, weil sie nicht schnell oder nicht effizient oder nicht höflich genug war, und zu guter Letzt ein Anruf bei ihr, wo immer sie war in dem Labyrinth von Notting Hill. Nein, vielleicht auch noch ein weiterer Anruf. Beim Taxistand oder bei einer Autovermietung wegen des Wagens, der ihn und sein Gepäck auf Nimmerwiedersehen wegfahren würde …
    Hör auf! befahl Wexford sich energisch. Laß das. Schluß damit. Das ist der Weg, der zum Wahnsinn führt – oder wenigstens zu obsessiven Neurosen. Weihnachten steht vor der Tür, los, an die Arbeit, vergiß ihn! Er brachte Dora eine Tasse Tee und ging zum Dienst.
    In seinem Büro sah er die morgendliche Post durch und stellte hier und da ein paar Weihnachtspostkarten auf. Eine war von Nancy Lake, und er betrachtete sie einen Moment lang nachdenklich, ehe er sie in seine Schreibtischschublade schob. Nicht weniger als fünf Kalender waren gekommen, davon einer vom Genre ›nackte Schönheit auf Glanzpapier‹, die Neujahrsgabe einer lokalen Autowerkstatt. Das brachte ihn auf Ginge an der Station West Hampstead, auf die Büros von Marcus Flower … Wurde er langsam verrückt? Was war los mit ihm, wenn ihm angesichts solcher Erotika eine Mörderjagd in den Sinn kam? Hör auf! Er wählte aus seiner Kollektion einen hübschen, unendlich langweiligen Kalender, zwölf Farbdrucke mit Landschaftsszenen aus Sussex, und hängte ihn neben den Übersichtsplan des Distrikts an die Wand. Das Geschenk der dankbaren Autowerkstatt schob er in einen neuen Umschlag, schrieb ›persönlich‹ darauf und ließ ihn in Burdens Büro bringen. Das würde den prüden Inspector zu Wutausbrüchen gegen die heruntergekommene Moral veranlassen, und ihn, Wexford, von dem gottverdammten, entwischten, triumphierenden, betrügerischen und flüchtigen Robert Hathall ablenken!
    Dann wandte er seine Aufmerksamkeit den Dingen zu, mit denen die Kingsmarkhamer Polizei im Augenblick befaßt war. Fünf Frauen in der Stadt und zwei aus umliegenden Dörfern hatten sich über obszöne Telefonanrufe beschwert. Das einzig Außergewöhnliche bei der Geschichte war, daß es sich bei dem Anrufer um eine Frau handelte. Wexford mußte lächeln bei dem Gedanken, bis in welche obskuren Winkel des Lebens sich die Frauenemanzipation auswirkte. Sein Lächeln wurde sehr viel grimmiger und sogar verärgert, als er Sergeant Martins Versuch las, die Aktivitäten von vier kleinen Jungen aufzubauschen, die einen Bindfaden zwischen einem Laternenpfahl und einer Gartenmauer gespannt hatten, um Passanten zu Fall zu bringen. Warum mußte er mit solchem Blödsinn seine Zeit vergeuden? Aber manchmal war es vielleicht besser, man vergeudete seine Zeit, als daß man sie damit verbrachte, immer und immer wieder einer gescheiterten Sache nachzuhängen …
    Das interne Telefon piepte. Er nahm den Hörer ab und war auf die Stimme eines selbstgefälligen und empörten Burden gefaßt.
    »Chief Inspector Lovat möchte Sie sprechen, Sir.«

21
    Lovat kam gemächlich herein, und mit ihm sein unvermeidliches Sprachrohr, Sergeant Hutton.
    »Schöner Tag heute.«
    »Verschonen Sie mich mit Ihrem schönen Tag«, knurrte Wexford mit kehliger Stimme, denn sein Herz und sein Blutdruck benahmen sich höchst merkwürdig. »Von wegen schöner Tag. Ich wollte, es würde schneien, verdammt noch mal, ich wollte …«
    Hutton sagte ruhig: »Wenn wir uns vielleicht eine Weile setzen könnten, Sir? Mr. Lovat hat Ihnen etwas zu sagen, wovon er annimmt, daß es Sie sehr interessiert. Und da er den Tip Ihnen verdankt, erschien es ihm als ein Gebot der Kollegialität …«
    »Setzen Sie sich, ganz nach Belieben, nehmen Sie sich einen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher