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Der Kristallpalast: Ein Steampunk-Roman (German Edition)

Der Kristallpalast: Ein Steampunk-Roman (German Edition)

Titel: Der Kristallpalast: Ein Steampunk-Roman (German Edition)
Autoren: Oliver Plaschka , Matthias Mösch , Alexander Flory
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weiße Gestalt, bewaffnet mit einem Zylinder und seinem unvermeidlichen Schirm.
    Ist es das, was du suchst?
    „Weshalb haben Sie mich damals mitgenommen?“, fragte ich in die Nacht hinaus. Ich wusste, er erriet, was ich meinte. „Sie hatten, was Sie wollten, und plötzlich änderten Sie den Plan. Weshalb?“
    „Immer diese Fragen“, sagte er sanft, und ich fuhr zusammen, weil er wieder direkt hinter mir stand.
    „Antworten Sie.“
    Er legte mir eine Hand auf die Schulter. Ich drehte mich um und sah in sein Gesicht, das immer noch aussah wie damals, immer noch voller Leben und Tatendrang. Er hatte die Brille abgenommen, und ein überirdisches Funkeln ging von dem Kristall aus, den er in seiner Augenhöhle trug. Manchmal drang ein wenig von diesem Funkeln durch das schwarze Brillenglas und irritierte seine Gesprächspartner, ohne dass sie hätten sagen können, was es war. Ich fragte mich nicht zum ersten Mal, was er wirklich damit sah. „Vielleicht habe ich für einen winzigen kleinen Moment der Versuchung nachgegeben, Schicksal zu spielen“, sagte er.
    „Sie hätten mich ebenso gut dort lassen können“, stellte ich fest, und die Worte fühlten sich bitter an auf meiner Zunge.
    Er breitete die offenen Hände aus, eine seiner Pilatusgesten, mit denen er sich reinwusch. „Richtig, ich hätte Sie ebenso gut dort lassen können. Tatsächlich hatte ich genau das einen Moment lang erwogen, als ich all die Hoffnung in Ihren Augen sah. Etwas zu viel Hoffnung für einen Mann, der niemals Kinder wollte.“
    Meine Kehle schnürte sich zusammen vor Zorn, und ich spürte meine Augen feucht werden. Blitzschnell hatte er eine Pipette hervorgezaubert und packte mich an der Wange. „So halten!“, wies er mich an wie ein Künstler sein Modell. Ich gehorchte, völlig perplex, und er saugte die Tränenflüssigkeit in die Pipette.
    Dann strich er mir übers Haar wie einem Schulmädchen.
    „Alles Humbug. Das wissen Sie doch, Miss Niobe, richtig?“
    „Bailey!“, zischte ich fassungslos. „Sie habe mich reingelegt!“
    „Ich brauchte etwas Tränenflüssigkeit für die Nekrotypie. Sie wissen doch – die alte Kunst.“
    „Haben Sie mir die Bilder von Indien gesandt, die mich den ganzen Abend schon heimsuchen?“ Ich hatte leider keine Ahnung, wie mächtig er wirklich war, aber zuzutrauen wäre es ihm.
    „Es liegt für Ende April viel Indien in der Luft“, sinnierte er, während er meine Träne in ein kleines Schälchen aus Sir Malcolms Bar träufelte, in das er zuvor, wie ich nun sah, mit einem Schleifstein etwas Silberstaub von dem Kerzenständer gestrichen hatte. Dann klappte er einen seiner Ringe auf und streute eine Prise pulverisierter Kristalle darüber. Die so entstandene Mixtur trug er mit einem feinen Pinsel auf eine golden schimmernde Folie auf, die er auf Sir Malcolms Schreibtisch ausgerollt hatte. „Haben Sie die Schlangenbeschwörer gesehen?“, fuhr er fort. „Ich frage mich, wie es erst Ende nächster Woche in der Stadt aussehen wird, wenn die Große Ausstellung ihre Pforten öffnet.“
    Ich beruhigte mich und sah ihm eine Weile bei der Arbeit zu. „Sie haben wieder Ihr Alchimistenlabor dabei“, stellte ich fest, als meine Neugierde allmählich meine Verärgerung verdrängte.
    „Wie Sie wissen, pflege ich immer ein Röllchen Orichalkumfolie in meinem Schirm mit mir zu führen. Sündhaft teuer, kann ich Ihnen sagen – aber ausgesprochen nützlich in Augenblicken wie diesem. Wenn ich noch einmal Ihre Hilfe bemühen dürfte? Sir Malcolm benötigt noch einen kleinen Anstoß.“
    Ich hatte nur eine vage Ahnung, was Bailey von mir erwartete. Ich war noch nie zuvor Zeugin einer Nekrotypie gewesen (und ich bezweifelte auch, dass man gerne Zeugen bei so etwas zugegen hatte), aber wir standen unter Zeitdruck.
    Zu meinem nicht unbeträchtlichen Erstaunen schraubte Bailey den Griff von seinem Schirm, nahm den Kristall aus seiner Augenhöhle und setzte ihn auf den verbleibenden Elfenbeinring. Dann schob er mit dem Fuß das Gummibäumchen heran, das in der Ecke hinter dem Schreibtisch stand, und stieß den weißen Schirm bedauernd in den Topf. Er rückte den Topf zwischen dem Toten und dem Schreibtisch zurecht, bis der Kristall eine Linie mit Sir Malcolm und der Folie auf dem Tisch bildete. Der Gummibaum musste noch einige Blätter lassen; dann starrten Sir Malcolms totes Auge und Baileys Auge aus Kristall unbehindert ineinander.
    „Ist das die Art, wie Sie es normalerweise tun?“, fragte ich.
    „Nicht ganz.
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