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Der Kristallpalast: Ein Steampunk-Roman (German Edition)

Der Kristallpalast: Ein Steampunk-Roman (German Edition)

Titel: Der Kristallpalast: Ein Steampunk-Roman (German Edition)
Autoren: Oliver Plaschka , Matthias Mösch , Alexander Flory
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als es mir gerade noch rechtzeitig gelang, sie in eine faszinierende Diskussion mit einem Sekretär Oliver Cromwells zu verwickeln“, murmelte Bailey, während er sich die Leiche besah und zu den gleichen Schlüssen kam wie ich Augenblicke zuvor. „Ein sauberer Schuss in die Brust, wahrscheinlich vom Fenster aus. Eine ebenso heimtückische wie effektive Waffe.“
    „Glauben Sie, er hat eine Art von Schallunterdrückung benutzt?“
    „Vermutlich“, überlegte er und nestelte mit einer Pinzette in der Wunde herum. „Keine Spur vom Projektil, aber ich werde etwas von dieser schwarzen Substanz zur Untersuchung mitnehmen.“
    „Der Mörder hat das Zimmer durchsucht“, erläuterte ich und beendete meine fruchtlose Bestandsaufnahme des Kleiderschranks. „Ich frage mich, was er gesucht hat.“
    „Sie schweifen zu sehr in die Ferne, Verehrteste.“
    „Meinen Sie, der Mörder interessierte sich für das Gleiche wie wir?“
    „Anzunehmen, sonst hätten Sie es wohl schon gefunden, nicht wahr?“, lächelte Bailey.
    Ich zuckte die Schultern. „Schwer zu sagen, ohne zu wissen, was es eigentlich ist.“
    „Wie ich bereits sagte, Sie hätten es erkannt. Vertrauen Sie mir. Es ist nicht hier. Wir müssen herausfinden, wer uns zuvorkam. Helfen Sie mir, wir haben nicht viel Zeit.“ Er packte die Leiche unter den Armen. „Wir mussten mit dem armen Thomas als Medium vorliebnehmen, und Sie wissen, was für eine einschläfernde Wirkung Hypnose auf ihn hat – er wird sicher bald beginnen, unsere Gastgeberin zu langweilen, und dann wird sie doch noch einen Diener schicken. Oder schlimmer noch, sie wird sich selbst bemühen.“
    Gemeinsam hoben wir die Leiche auf den Sessel vor dem Arbeitstisch. Wäre da nicht der rote Fleck auf seiner Brust gewesen, Sir Malcolm hätte beinahe friedlich gewirkt, so als schliefe er nur.
    Bailey kramte in seiner Westentasche herum und zog ein großes, silbernes Etui hervor. Er öffnete es und entnahm ihm eine Spritze. Ich beobachtete ihn misstrauisch. „Sagen Sie mir, dass Sie nicht vorhaben, was ich befürchte.“
    „Was wäre Ihnen lieber? Dass ich seinen Schädel öffne und das Gehirn zum Tempel bringe? Dafür hätten wir kaum die erforderliche Ruhe.“ Er schüttelte den Kopf wie über eine törichte Idee und zog eine messingfarbene Flüssigkeit auf. „Schätzen Sie sich glücklich, dass wir diskreter vorgehen können. Halten Sie ihn still.“
    Ehe ich etwas erwidern konnte, hatte er die Spritze mit einem heftigen Schlag in Sir Malcolms Stirn gestoßen. Angewidert wandte ich mich ab, als die Leiche zu zucken begann.
    „Na, na, na“, brummte Bailey, der vor dem Toten in die Hocke gegangen war und ihm intensiv in die offenen Augen starrte. „Vertreten Sie sich ruhig ein wenig die Beine, Miss Niobe, das Mittel braucht ein wenig, um zu wirken. Haben Sie zufällig irgendwo etwas Silber gesehen?“
    Ich wies auf einen Kerzenständer neben dem Sofa und trat ans offene Fenster, um meine Übelkeit niederzukämpfen. Hätte ich Bailey nicht schon so lange gekannt – hätte ich ihm nicht so viel zu verdanken gehabt –, so hätten einige seiner Gewohnheiten sicher exzentrisch auf mich gewirkt.
    Als ich da stand und mich unter Kontrolle zu bringen versuchte, der abnehmende Mond seine Schatten über die Kamine des Westends warf und Bailey hinter mir irgendetwas Unsinniges mit dem Kerzenständer anstellte, überkam mich zum dritten Mal an diesem Abend die Macht der Vergangenheit. Ich spürte, dass ich ihr diesmal nicht würde standhalten können. Die fernen Schatten der Bäume im Hydepark wurden zu den Kronen hoher Urwaldriesen; ich hörte Pfauen- und Papageiengeschrei, das Trompeten von Elefanten und das Kreischen von Affen im Geäst. Doch waren dies nicht meine Erinnerungen. Ich spürte, wie sich zwischen den Bäumen und hinter den Türmen eine alte Präsenz regte – so alt wie ein schlafender Gott in seinem Tempel ...
    „Ananda“, dachte ich und erschauderte, und ich war nicht mehr die edel gekleidete Frau, die ich vorgab zu sein, sondern wieder das kleine Kind, das Lord Bailey in Kalighat aufgelesen hatte, wo es auf den Stufen des Tempels um Almosen gebettelt hatte. Ich hatte einen anderen Namen gehabt damals, an den ich mich nicht mehr erinnerte. Bailey hatte mir meinen neuen Namen gegeben, als er mich aufnahm. Ich hatte nur Lumpen getragen, und meine Gesellschaft waren Bettler und Diebe gewesen, Kastenlose wie ich. Ich sah ihn vor mir wie damals, wie er mich anlächelte – eine strahlende
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