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Der Krieger und der Prinz

Der Krieger und der Prinz

Titel: Der Krieger und der Prinz
Autoren: Merciel Liane
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das Schlachten war ihr nicht fremd, und sie kannte die Gerüche von Blut, Eingeweiden und Fäulnis. Allerdings wehte der Wind etwas Schlimmeres herauf, obwohl es so schwach war, dass sie halb an Einbildung glaubte.
    In der Ferne kreisten im Westen winzige, schwarze Flecken über den Bäumen. Raben oder Krähen oder bloße Ausgeburten ihrer Fantasie trieben in der blauen Abenddämmerung. Ein nebelhaftes Grau schien dem Wald anzuhaften und sich in Schatten zu verwandeln, sodass es schwierig wurde, das eine vom anderen zu unterscheiden. Sie konnte keines der winzigen Lichter erkennen, die nach Einbruch der Dunkelheit in Weidenfeld hätten brennen sollen: keines der Feuer von Heim oder Herd oder Tempel, wie sehr sie die Augen auch anstrengte.
    Sie stand noch immer da und starrte in die Nacht hinaus, als Brys mit einem Armvoll Holz zurückkehrte. Sie hatte den Eindruck, dass er ihr im Vorbeigehen einen seltsamen Blick zuwarf, aber in der Dunkelheit war das schwer zu erkennen. Was er auch denken mochte, er behielt es für sich.
    Einige Minuten später wärmte ein Feuerschein den hohlen Turm. Odosse kehrte der Nacht den Rücken zu und ging hinein.
    Brys nahm ihr die Kaninchen ab und hängte sie zum Braten über ein kleines Feuer. Wortlos holte Odosse Brot und harten Käse hervor. Beides hatte sie am Morgen für sich selbst eingepackt – seitdem schien ein ganzes Leben verstrichen zu sein –, und sie reichte dem großen Mann jeweils die Hälfte von beidem. Dann setzte sie sich auf die andere Seite des Feuers, und sie aßen in einem Schweigen, das nur vom Knistern der Flammen durchbrochen wurde.
    Nachdem sie ihre Mahlzeit beendet hatten, legte er noch einige Holzscheite auf das Feuer; dicke, schwere Stücke, die langsam und die ganze Nacht hindurch brennen würden.
    »Du hast gehofft, es wäre nicht wahr«, sagte er. »Was ich von dem Dorf erzählt habe.«
    Sie nickte, obwohl sie die Wahrheit dieses Gedankens bis zu diesem Moment nicht zur Gänze erfasst hatte. »Ich habe gehofft.«
    »Und jetzt?«
    Odosse antwortete nicht. Die Ungeheuerlichkeit der Frage war zu groß für Worte. Es war, als überlege man, wie viele Schlucke jemand nehmen müsste, um das Meer zu leeren: Sie wusste, dass ihre Trauer da war, gewaltig wie dieses endlose, nie gesehene Wasser, aber es schien unmöglich, dass sie jemals in der Lage sein würde, diese Trauer genügend klein zu machen, um sie auch herunterzuschlucken.
    An diesem Morgen hatte sie ein Heim und einen Herd gehabt und eine Familie, die sie liebte. Jetzt war es Nacht, und wenn sie Brys Glauben schenken durfte, besaß sie außerhalb dieses Turmes nichts mehr. Ihre Familie, ihre ganze Welt war verschwunden, so gewiss wie das untergegangene Reich, das die Straßen, auf denen sie heute gegangen war, erbaut hatte. In einigen Sommern würde sich niemand mehr an diese Menschen erinnern. Die Wälder würden ihre Felder, eingefasst mit Baumstümpfen, zurückfordern, die Füchse und Spatzen würden Nester in ihren Häusern bauen, und niemand würde sich an ihre Namen erinnern.
    Falls sie ihm Glauben schenkte. Sie wollte es nicht. Aber sie hatte keine Lichter in der Dunkelheit gesehen. Nicht eine einzige Kerze in ihrem Dorf. Und so saß sie nun hier und fragte sich, wie lange es dauern würde, das Meer auszutrinken.
    Sie nahm Aubry auf den Arm und wiegte ihn langsam in den Schlaf, während sie beobachtete, wie der Feuerschein auf seinem runden, friedlichen Gesicht spielte. In diesem Moment liebte sie ihn mit einer Wildheit, die drohte, ihr die Tränen in die Augen zu treiben. Gleichzeitig wusste sie, dass ihre Liebe etwas Zerbrechliches war, nicht größer als ihr winziges Feuer, das die Dunkelheit zurückhielt. Liebe hatte ihr Dorf nicht vor dem Tod bewahrt.
    Mochte es sein, wie es wollte. Solange sie da war, würde die Nacht ihn nicht bekommen.
    »Wer sollte Weidenfeld zerstören?«, fragte sie.
    »Ich weiß es nicht.« Brys ergriff eines seiner Messer und schärfte die Klinge im Schein der Flammen. Immer, wenn er einige Male darüber gestrichen hatte, prüfte er mit dem Daumennagel die Schärfe der Schneide. »Wer sie auch waren, sie hatten eine Dorne.«
    »Was ist eine Dorne?«
    »Eine verstümmelte Hexe. Es überrascht mich, dass du nichts von ihnen gehört hast. Vielleicht hast du jedoch bisher zu weit im Westen gelebt, um viele zu Gesicht zu bekommen. Sie stammen aus Ang’arta, wo sie im Turm der Dornen von ihrer verfluchten Hoheit Avele diar Aurellyn ausgebildet werden. Sie ist Gemahlin
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