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Der Krieger und der Prinz

Der Krieger und der Prinz

Titel: Der Krieger und der Prinz
Autoren: Merciel Liane
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ein Säugling. Er kann das nicht wissen.« Odosse schüttelte erstaunt den Kopf. Wusste der Mann denn gar nichts über Kinder? »Nein, es ist nicht normal. Das Kind braucht eine Heilerin. Eine gute, und zwar schnell. Es will nicht trinken, es weint nicht, und es hat Blut in den Augen. Ich habe nur ein einziges Baby in diesem Zustand gesehen. Die Kleine hatte zu laut geweint, und ihr Vater war wütend geworden. Sie ist wenige Stunden später gestorben.«
    Vielleicht hatte er denselben Verdacht gehegt, oder vielleicht hatte er bereits gelernt, ihrem Urteil zu vertrauen, denn Brys äußerte keine Zweifel. Er nickte, nahm ihr Wistan ab und gürtete das Kind in eine behelfsmäßige Trage, die aussah, als sei sie aus dem Futterbeutel eines Pferdes und einer Peitsche zusammengesetzt. »Wie gut?«
    »Eine der Gesegneten«, sagte sie leise, obwohl sie wusste, welch unmögliche Bitte das war. »Ich glaube nicht, dass sonst jemand die Macht hat, ihm zu helfen.«
    Brys nickte abermals. Er wirkte nicht überrascht. »Dann also nach Osten. Tarnebrück.«
    An diesem Tag brachte er sie weiter nach Osten, als sie je zuvor gekommen war. Im Osten lag Eichenharn; im Osten lag Gefahr. Der Weg zum Cottage der Amulettmacherin war der weiteste, den Dorfmädchen zu gehen wagten, und den Mut dazu brachten auch nur die Törichten und Verzweifelten auf. Aber Brys Tarnell schien sich nicht die geringsten Sorgen um eine mögliche Begegnung mit Bewaffneten von Eichenharn zu machen, also versuchte Odosse, die Anspannung in ihren Schultern ebenso zu ignorieren wie ihre Nervosität, wann immer ein Zweig knackte. Wenn er sich keine Sorgen machte, dann sollte sie es auch nicht tun – aber das war leichter gesagt als getan. Ihr Stock war nur ein dürftiger Schutz gegen Pfeile.
    Hinter ihnen glitt die Sonne dem Horizont entgegen und färbte die Herbstblätter rot. Das schräg einfallende Licht hob die verblassten, von der Zeit abgenutzten Runen hervor, die in die Wegsteine eingeritzt waren, an denen sie vorbeikamen, was die Nüchternheit dieser uralten, kantigen Schrift noch betonte. Nicht zum ersten Mal fragte Odosse sich, wer die Wegsteine aufgestellt hatte und was darauf geschrieben stand. Rhaelyand, sagten die Leute und sprachen den Namen aus wie eine Huldigung: Das alte Reich hatte die Steine dort hingesetzt. Aber konnte das wahr sein? Wie konnte ein Reich, das eine Straße bauen konnte, die noch tausend Jahre später existierte, so vollkommen verschwinden? Niemand in ihrer Welt konnte die Markierungen mehr lesen; niemand wusste, welche Warnungen oder Segnungen sie bargen. Die Steine waren einfach da, so alt wie die Straße, so seltsam wie die Biegungen, die sie nahm, um zu längst verschwundenen Städten zu führen.
    Während der Tag sich dem Ende neigte, kam ein kühler Wind von Westen auf, der eine Spur von Rauch mit sich trug. Die Straße schlängelte sich einen hohen, kahlen Hügel hinauf und brachte sie in ein Gebiet oberhalb des Waldes. Auf dem Gipfel des Hügels stand ein eingestürzter Turm, das verwitterte Grau seiner Steine leuchtend weiß gesprenkelt. Es sah aus wie Tröpfchen von Mondlicht, die im Fels gefangen waren. Das war kein einheimischer Stein; es war der gleiche seltsame Fels wie die Wegsteine und die halb vergrabenen Quader, mit denen die Straße der Flusskönige gepflastert war. Die Steine schienen von innen her zu leuchten und hielten Wärme und die Erinnerung an Licht in der Dunkelheit noch ein Weilchen länger fest.
    »Wir werden hier Rast machen«, sagte Brys, als sie den Gipfel und den abgebrochenen Turm erreichten. Eine Krähe hockte zwischen den Steinen auf seiner Spitze und blickte mit einem schwarzen, unfreundlichen Auge auf sie herab. »Wir werden heute Nacht keine bessere Unterkunft finden, und die Mauern werden unser Feuer verbergen.«
    »Es heißt, in diesen Ruinen spuke es«, erwiderte Odosse.
    »So heißt es. Die Geister können von mir aus gern spuken, wenn sie wollen, so lange sie keine Schwerter haben.« Brys nahm Wistan aus seiner Trage und reichte ihn Odosse. Er gab seinem Pferd zu trinken und machte es auf der Seite des Turms fest, wo es Gras und ein wenig Schutz vor dem Wind fand. Danach ging er in den Wald, um Holz zu sammeln, während Odosse sich um die Babys kümmerte und Brys’ Kaninchen zum Braten auf scharfe Stöcke spießte.
    Hier oben war der Rauch stärker zu riechen. Etwas Widerwärtiges schien die fernen Gerüche von Holzrauch und verbranntem Fleisch zu besudeln. Odosse war ein Landmädchen;
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