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Der Krieger und der Prinz

Der Krieger und der Prinz

Titel: Der Krieger und der Prinz
Autoren: Merciel Liane
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den Wunsch nach Versöhnung zwischen den beiden Nationen auszudrücken. Die Einzelheiten blieben Odosse ein Rätsel, aber wie jeder andere in ihrem Dorf hatte sie die Gerüchte gehört und vage begriffen, dass Sir Galefrids Besuch einen kleinen Schritt in Richtung Frieden bedeutete.
    Falls er tot und auf langmyrnischer Erde gestorben war, wären diese Hoffnungen im Keim erstickt. Mehr noch: Die Morde konnten als Provokation aufgefasst werden, nicht nur an der Grenze, sondern bis zu König Raharics Sitz in Isencras. Die Ermordung einer jungen Mutter und ihres Säuglings sowie eines gesamten Dorfes an der Grenze … Die Gräueltaten konnten ohne Weiteres einen Krieg auslösen.
    »Wer profitiert von einem Krieg?«, fragte sie.
    Brys schaute von seiner Klinge auf und lächelte leicht, grimmig erfreut darüber, dass sie ihm so weit gefolgt war. »Ich profitiere davon. Wie auch alle meinesgleichen. In friedlichen Zeiten besteht kein großer Bedarf an Söldnern. Auch nicht an Waffen aus Eisenfall oder Pferden aus Mirhain oder tausend anderen Dingen, die im Krieg erforderlich sind. Ang’arta wird Kompanien der grausamsten Söldner in Ithelas verkaufen, und Seewacht wird die Mittel für ihre Bezahlung leihen. Alle profitieren, bis auf die Länder, in denen gekämpft wird, also mangelt es uns in dieser Hinsicht nicht an Verdächtigen – was jedoch voraussetzt, dass die Morde begangen wurden, um die Grenzländer in einen Krieg zu stürzen. Es könnte auch einfach sein, dass ein langmyrnischer Lord mit ebenso viel Geld wie Missgunst seine Chance gewittert und eine Dorne in Dienst genommen hat, um sie zu ergreifen.«
    »Nein«, flüsterte Odosse kopfschüttelnd.
    »Nein?«, wiederholte Brys, und in seinen grünen Augen leuchtete Spott. »Du bist an der Grenze groß geworden. Willst du mir ernsthaft weismachen, der alte Hass würde nicht so tief reichen?«
    Sie konnte es nicht. Es gab keine Familie in Weidenfeld, die nicht aufgrund der Feindschaft zwischen Eichenharn und Langmyr Narben davongetragen hatte; sie kannte keine Menschenseele, die nicht eine Geschichte von einem verkrüppelten Verwandten oder toten Freund erzählen konnte oder voller Stolz von Vorfahren berichtete, die den Eichenharnern Schlimmeres angetan hatten, um sich zu rächen. Trotzdem konnte niemand, wirklich niemand, so leidenschaftlich hassen, dass er ein ganzes Dorf voller Landsleute töten würde, nur um ein Baby von der falschen Seite der Grenze in die Hand zu bekommen.
    »Nein«, sagte sie noch einmal, aber diesmal so leise, dass sie das Wort selbst kaum hörte.
    Brys schien sie überhaupt nicht zu beachten. Er gähnte, streckte sich auf seiner Seite des Feuers aus und hüllte sich in seinen dunkelgrünen Umhang. »Schlaf ein wenig«, riet er ihr, während er eine Satteltasche als Kissen unter seinen Kopf zog. »Morgen wartet ein noch längerer Tag auf uns.«
    Odosse versuchte, seinem Beispiel zu folgen, und machte es sich mit dem, was sie hatte, so bequem wie möglich. Sie legte sich Aubry in die Armbeuge und holte auch Wistan nah heran, um die Wärme ihres Körpers mit den beiden Kindern zu teilen. Doch der Schlaf wollte nicht kommen. Sie beobachtete den Tanz der Schatten auf den Turmmauern und schaute zum Mond hinauf, der hell durch windgepeitschte Wolken schien, und sie staunte darüber, wie sehr ihre Welt sich binnen eines Tages verändert hatte.
    Wieder schreckten ihre Gedanken vor der Ungeheuerlichkeit des Verlustes zurück. Sie war noch nicht bereit, sich damit auseinanderzusetzen. Stattdessen dachte sie an kleinere Dinge, schlichtere Dinge, etwas, das einer Normalität in einem Leben, in der dieses Wort keine Bedeutung mehr hatte, näher kam.
    Morgen.
    Morgen würde sie weiterreisen. Odosse wusste nicht genau, wie weit es bis Tarnebrück war; der Ort lag auf der anderen Seite des Flusses in feindlichem Land, und sie war noch nie da gewesen. Aber andere aus ihrem Dorf hatten Tarnebrück besucht, und sie hatte ihre Geschichten gehört.
    In guten Jahren, wenn es keine Morde gegeben hatte und sich die Gemüter nicht erhitzten, gingen die Leute aus Weidenfeld manchmal nach Tarnebrück, um Handel zu treiben. Sie sagten, es sei nicht so übel wie die kleinen Dörfer, in denen die Menschen sich ein Leben lang mit ihren Kümmernissen plagten, oder wie in den Städten tiefer in Eichenharn, wo die Bewohner niemals einen Langmyrner gesehen hatten, es sei denn, ihre Fürsten rekrutierten ihre Untertanen für den Krieg. In Tarnebrück gab es Reisende,
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