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Der Krieger und der Prinz

Der Krieger und der Prinz

Titel: Der Krieger und der Prinz
Autoren: Merciel Liane
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beachtete ihre Entrüstung nicht. »Hör zu«, sagte er, als habe er eine Entscheidung getroffen, »denn ich werde das nur ein einziges Mal erklären. Du kannst nicht nach Weidenfeld zurückkehren. Dein Dorf ist tot. Eine Dornenlady und ein Trupp Bewaffneter haben alle Einwohner getötet. Alle, verstehst du mich? Sie haben Blutnebel benutzt. Den überlebt niemand. Selbst die Scheunenmäuse sind tot. Ich weiß nicht, wer sie geschickt hat oder warum, und ich weiß nicht, was sie in Weidenfeld wollten. Ich habe die Absicht, es herauszufinden. Aber zuerst muss ich mich in Sicherheit bringen, und ich muss auch das Kind meines Herrn in Sicherheit bringen.«
    Er hielt inne und musterte sie hart, aber Odosse war zu erstaunt für eine Antwort. Einen Moment später sprach der Mann weiter. »Ich weiß nicht, wie man sich um einen Säugling kümmert. Ich habe keine Milch, und ich weiß nicht, was er sonst noch braucht. Ich baue darauf, dass du es weißt. Ich werde dich zur nächsten Stadt bringen und dafür sorgen, dass du sie sicher erreichst. Als Gegenleistung wirst du dich um das Baby kümmern. Abgemacht?«
    Odosse sagte noch immer nichts. Der Mann, der ihr benommenes Schweigen als Zögern wertete, fügte freundlicher hinzu: »Ich schätze deinen Verlust nicht gering. Auch meine Freunde sind dort gestorben. Aber dein Dorf ist tot, und die Grenzstraßen sind gefährlich genug, auch ohne dass Dornen auf der Jagd wären. Ich bin deine beste – deine einzige – Hoffnung auf Sicherheit.«
    Odosse nickte nur, da sie ihrer Stimme nicht traute. Aubry begann hinter ihr zu wimmern.
    Der Mann schenkte ihr ein weiteres flüchtiges, leises Lächeln und ging die Straße hinunter. Nach einigen Schritten blieb er stehen und blickte über seine Schulter. »Hast du irgendwelche Fragen?«
    Ja, wollte Odosse rufen, ja. Was ist eine Dorne, und wer bist du, und wie kann Weidenfeld tot sein? Wie kann ein ganzes Dorf sterben? Mutter und Vater und die kleine Aileth mit ihren neugeborenen Zwillingen und Vostun, der Stallknecht, der mit seinen Pferden scherzte, und der magere alte Solaros, der sich nach jeder Beerdigung dumm und dämlich trank – wie konnten sie tot sein? Sie waren am Morgen noch alle wohlauf gewesen.
    Sie sagte nichts von alledem. Stattdessen presste sie die Lippen zusammen, bis der Drang, zu lachen oder zu schluchzen oder den Fremden anzuschreien, vorüber war, und dann fragte sie – stolz darauf, dass ihre Stimme kaum zitterte: »Wie ist dein Name?«
    »Brys Tarnell«, sagte er, und in seinen Augen zeigte sich ein Anflug von Respekt.
    Sein Pferd wartete an einem kleinen, gewundenen Bach, den Odosse noch nie zuvor gesehen hatte, obwohl sie den bayarnischen Wald so genau kannte wie die Innenfläche ihrer Hand. Er hatte das Tier gesattelt zurückgelassen, während er seine Kaninchen gejagt hatte, und als Odosse näher kam, sah sie zu ihrem Entsetzen, dass Brys das Baby in eine seiner Satteltaschen gestopft hatte. Jemand hatte das Kind in Decken eingewickelt, bis es fett wie ein Kloß geworden war, daraufhin in die Tasche geworfen und auf dem Rücken des Pferdes hängen lassen, sodass nur sein Kopf hervorlugte. Wundersamerweise und durch die Barmherzigkeit der Strahlenden schien der Kleine friedlich zu schlafen.
    Brys zuckte angesichts ihres empörten Blicks nur die Achseln. »Ich konnte ihn nicht mitnehmen, und ich konnte ihn auch nicht auf dem Boden liegen lassen. Er schien sich da drin durchaus wohlzufühlen. Außerdem brauchte er den Schlaf. Er hat den ganzen Tag geweint.«
    »Kein Wunder«, bemerkte sie düster und schob sich an ihm vorbei, um das Kind herauszunehmen.
    Etwas stimmte nicht mit dem Baby. Das erkannte Odosse, noch bevor sie ihn aus den Windeln geholt hatte. Das Kind bewegte sich kaum, als sie es aus der Satteltasche hob. Sein Kopf hing schlaff an ihrem Arm, und der Kleine gab außer dem bebenden Wimmern seines Atems keinen Laut von sich. Ihr eigener Sohn war ein stilles Kind, aber Aubry war niemals so ruhig gewesen, und wenn sie ihn aus dem Schlaf holte, öffnete er stets die Augen und verlangte eine Brust.
    »Wie heißt er?«, fragte sie.
    Angesichts der Sorge in ihrer Stimme zog Brys eine schwarze Braue hoch. »Wistan.«
    Sie nahm den Säugling in die Arme und wiegte ihn hin und her, um ihn zu wecken. »Wistan? Wach auf, Liebling, du musst Hunger haben.«
    Das Baby regte sich nicht. Sanft und ängstlich drückte Odosse ihm mit den Fingerspitzen die Lider auf. Seine Pupillen waren dunkel und so riesig, dass sie
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