Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Krieger und der Prinz

Der Krieger und der Prinz

Titel: Der Krieger und der Prinz
Autoren: Merciel Liane
Vom Netzwerk:
ein Mädchen gewesen war, und sie erwartete, dass es noch genauso wäre, wenn Aubrys Kinder grau wurden. Die Menschen hingen an ihrem Hass mehr als an ihrer Liebe.
    Heute jedoch machte sie sich keine Sorgen wegen Plünderern aus Eichenharn. Es war die falsche Jahreszeit: Berufssoldaten würden hart für die Wettkämpfe am Schwerttag trainieren, Bauern mit der Ernte beschäftigt sein. Wichtiger war jedoch, dass sich das Rascheln anhörte, als handele es sich bloß um eine einzige Person, und kein Plünderer, der noch recht bei Verstand war, überquerte die Grenze allein.
    »Wer ist da?«, rief Odosse, ihren Gehstock hoch erhoben.
    Das Rascheln verstummte. Eine Männerstimme antwortete; sie klang müde und, so kam es Odosse vor, leicht wütend. Sein Akzent wies ihn als Fremden aus; von wo er kam, konnte sie nicht sagen. Jedenfalls nicht aus den Grenzländern. Sie kannte alle Dialekte der einheimischen Dörfer, und er sprach keinen davon. »Ich sollte dir die gleiche Frage stellen.«
    »Ich habe einen Stock«, sagte sie, »und ich habe kein Geld. Wenn du also nach einem Reisenden Ausschau hältst, den du ausrauben kannst, suchst du besser an anderer Stelle.«
    »Das tue ich nicht.« Von Neuem ertönte das Rascheln und wurde lauter, als der Mann näher kam. Er trat auf die Straße hinaus und schüttelte sich gelbe Blätter von seinem Umhang.
    Er war ein großer Mann, breitschultrig und mit einem Gesicht, das härter nicht hätte sein können, selbst wenn es aus Stein gewesen wäre. Seine leuchtend grünen Augen waren scharf und mitleidlos wie die einer Wildkatze, und er bewegte sich mit der gleichen raubtierhaften Anmut. Eine rote Linie verunstaltete sein Kinn; es sah aus, als sei die frische Wunde entzündet. Von seinem Gürtel baumelten zwei tote Kaninchen, und an beiden Hüften hingen lange Messer in abgenutzten Scheiden.
    Eine andere Frau, die ihm an einem anderen Ort begegnet wäre, hätte diesen Mann vielleicht für gut aussehend gehalten. Aber Odosse war allein auf der Straße der Flusskönige, sie hatte ihr Baby auf dem Rücken und lediglich einen Stock in Händen, und sie verspürte nur Angst.
    »Wohin gehst du?«, fragte er.
    »Ich wüsste nicht, was dich das angeht.«
    »Ich würde sagen, es geht mich etwas an, wenn du auch dort eintreffen willst.«
    Sie ließ langsam ihren Stock sinken, suchte nach einem Grund, eine Antwort zu verweigern, und fand keinen. Er hatte sie bereits auf der offenen Straße in der Hand; es war nicht so, als müsse sie sich Sorgen wegen eines Hinterhalts machen. »Weidenfeld«, sagte sie widerstrebend.
    »Dieses kleine Dorf etwa sechs Meilen westlich von hier?«
    »Ja.«
    »Von dort stammst du?«
    »Ja.«
    Er nickte, und für einen Moment schien es, als schaue er durch sie hindurch, als hätten seine Gedanken sich von ihrer Begegnung im Wald entfernt. Dann richtete er den Blick wieder auf sie, und seine Augen leuchteten beunruhigend. Sie kam sich vor wie eine Maus, die der Blick einer Schlange bannte. »Du kannst nicht dorthin zurückkehren.«
    Odosse versteifte sich. Aubry, der ihre Anspannung spürte, gab ein leises Klagen von sich und wedelte mit den Fäusten. Sie umfasste den Stock mit dem eisernen Griff fester und hob ihn abwehrend hoch, obwohl der Mann sich nicht bewegt hatte. »Warum nicht?«
    Er antwortete nicht. Stattdessen flackerte sein Blick zu der Babytrage auf ihrem Rücken, bevor er ihn langsam wieder auf ihr Gesicht richtete. Der Mann musterte sie sorgfältig und anerkennend, als schätze er eine Ziege auf dem Markt ab.
    Odosse spürte, dass sie unfreiwillig errötete. Sie wusste, was er sah. Es war das Gleiche, was alle Männer sahen: ein Bäckermädchen mit dicken Beinen, einem reizlosen Gesicht und schlammfarbenem Haar und Augen. Ihre Nase war zu kräftig, ihr Mund zu breit, ihre rauen Hände schwielig. Sie hatte einen starken Rücken und gute Arme, und sie konnte den ganzen Tag lang Wasser schleppen oder Holz hacken, ohne zu ermüden; aber sie war nicht schön, und sie war es nie gewesen und würde es niemals sein. Die Träume des Morgens zerbröckelten unter der Realität seines Blickes zu Asche.
    »Ist das dein Baby?«, fragte der Mann.
    »Ja.«
    »Wer ist sein Vater?«
    »Ich sehe auch in diesem Fall nicht, dass dich das etwas anginge«, fauchte sie mit heißen Wangen.
    »Das stimmt«, pflichtete er ihr mit einem leisen Lächeln bei, »es geht mich wohl tatsächlich nichts an. Stillst du noch?«
    Die Unschicklichkeit der Frage schockierte sie. »Was?«
    Er
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher