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Der Kreis der Dämmerung 03 - Der weiße Wanderer

Titel: Der Kreis der Dämmerung 03 - Der weiße Wanderer
Autoren: Ralf Isau
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unbeschreibliche Gräueltaten an den Sikhs verübt. Letztere waren in der Kunst des Massakrierens allerdings kaum weniger erfahren, wie etliche von Allahs Kindern zu spüren bekommen hatten. Warum sollte sich Mehta ausgerechnet in die Höhle des Löwen begeben? Vielleicht war ja auch der Attentäter getäuscht worden, weil ein gewisser Unbekannter sehr genau wusste, wem sein Henkersknecht in die Hände fallen würde.
    »Ram, Ram!« Die letzte Anrufung des Gottes, der über die Zeremonie wachte, verklang. Stille breitete sich aus. Wie konnten Hunderttausende sich nur so ruhig verhalten? Feierlich hielt Devadas die Fackel ans Stroh. Unglaublich schnell zog sich ein Flammengürtel rund um den Scheiterhaufen und umhüllte Gandhis sterbliche Überreste. Sengende Hitze traf die nahe stehenden Trauergäste.
    Auch aus der Ferne war die Lohe gut zu sehen und mit einem Mal drängte die Menge in das umzäunte Areal. Die Einfriedung fiel schon unter dem Ansturm der ersten schreienden und jammernden Menschen. Ein mulmiges Gefühl machte sich in Davids Magengrube breit. Noch hatte sich seine Sekundenprophetie nicht alarmierend gemeldet, aber dieser Ansturm der Trauernden konnte schnell zu einer tödlichen Gefahr werden.
    »Alle hinsetzen! Schnell!«, brüllte Lord Mountbatten und zeigte, wie es gemacht wird. Er nahm im Schneidersitz auf dem Boden Platz und zog den Kopf ein. Viele taten es ihm nach.
    David blieb stehen und sah – halb beruhigt, halb angewidert –, wie berittene Polizisten mit ihren Lathis gegen die verkörperte Trauer Indiens vorgingen. Hagelschauern gleich prasselten ihre langen Stöcke auf die schreienden und stöhnenden Menschen nieder.
    Allmählich kam die Masse zum Stillstand. Einmal mehr hatte britischer Drill für Ruhe gesorgt.
    Lord Louis gab Entwarnung. »Fast wären wir geröstet worden«, sagte jemand in Davids Nähe. Die Feierlichkeiten konnten weitergehen.
    Amritsar oder nicht Amritsar? Sobald die unmittelbare Gefahr gebannt schien, versank David wieder in Gedanken. Wenn er Belials Logenbruder auf dem Subkontinent fände, ließ sich vielleicht noch der Bürgerkrieg verhindern, von dem seit Gandhis Ermordung wieder vermehrt die Rede war. David verzweifelte fast an seiner Trauer um diesen wertvollen Menschen und der Wut auf die Urheber der Leiden seines Volkes. Ich wünschte, Rebekka wäre hier. Sie war mir so oft der Wegweiser…
    Plötzlich erhob sich das feine weiße Leichentuch aus dem fauchenden Flammenofen in die Luft. David beschirmte mit der Hand die Augen, um seinen Flug zu verfolgen. Ein Zeichen? Das Tuch verschwand in der Sonne. Du fängst an durchzudrehen, mein Bester.
    Devadas schien mit der beißenden Glut noch nicht zufrieden zu sein. Oder gehörte das zur Zeremonie? Jedenfalls schüttete er flüssige Butter auf den brennenden Leichnam. Um die wild fauchende Feuerbestie zu übertönen, ließen die Punjaris ihren Singsang noch lauter erschallen. Die orangefarbenen Gewänder flimmerten in der aufsteigenden Hitze.
    Dann blickte David gebannt auf den großen Hammer, der plötzlich in Devadas Händen erschienen war. Er schwang ihn über dem Kopf seines Vaters, ließ ihn niederfahren. Als der Schädel des Toten mit lautem Knacken zerbarst, zuckte David unwillkürlich zusammen.
    »Jetzt kann seine Seele endlich aufsteigen«, raunte Balu in Davids Ohr. »Bapu hat uns immer gesagt, er werde des Namens Mahatma erst dann würdig sein, wenn sein letzter Gedanke der Gegenwart Gottes gehöre und nicht dem Tod an sich. Nachdem er nun mit Rams Namen auf den Lippen von uns gegangen ist, wird er unter seinem Ehrentitel unsterblich sein.«
    David schaute Balu ernst an, bevor er sich wieder dem Geschehen um den Scheiterhaufen zuwandte. Er teilte zwar nicht Balus Ansichten, was das Leben nach dem Tod betraf, glaubte aber auf die ihm eigene Weise ebenso an Gandhis Unsterblichkeit.
    Noch ganz in diesen Gedanken versunken, geschah erneut etwas Ungewöhnliches, das nicht nur ihn erschauern ließ: Gandhis Arm hob sich.
    Ein Stöhnen und Raunen ging durch die Menge. Die Umstehenden blickten gebannt auf die verkohlten Finger, die für einem Moment über den Flammen zu schweben schienen.
    Davids Nackenhaare stellten sich auf. Es war nicht die erste schwarze Hand, die ihm während einer Trauerfeier erschien. Wohin? Die Frage bahnte sich ungestüm ihren Weg in sein Bewusstsein. Dann sank die schwarze Hand nach Nordwesten zeigend herab.
    »Hast du so etwas schon einmal gesehen?«, hauchte er.
    »Du meinst genau so
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