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Der Kreis der Dämmerung 03 - Der weiße Wanderer

Titel: Der Kreis der Dämmerung 03 - Der weiße Wanderer
Autoren: Ralf Isau
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etwas, Sahib?«
    David riss sich von dem Flammenmeer los und blickte in Balus braune Augen. »Amritsar liegt doch nordwestlich von Delhi, nicht wahr?«
    »Ja, Sahib.«
    »Ich glaube, ich weiß jetzt, was ich als Nächstes tun werde.«
    »Oh nein, Sahib.«
    »Doch, Balu.«
    »Zu gefährlich, Sahib!«
    David blickte wieder zu dem in sich zusammenfallenden Scheiterhaufen hin. »Du hast Recht, es ist zu gefährlich.« Balu wollte schon aufatmen, aber da fügte sein Sahib hinzu: »Für einen alten Hindu wie dich. Aber ich werde morgen in die Stadt des Goldenen Tempels aufbrechen.«

 
    Der Goldene Tempel
     
     
     
    Manu hatte eine Bürste genommen und den ganzen Körper von Abhitha geschrubbt. Erstere war nun zufrieden und Letztere nicht mehr wieder zu erkennen. Gerührt hatte David beobachtet, wie Gandhis Nichte ihr kummervolles Herz dem bisher immer nur herumgestoßenen »Findelkind« aus Faridabad öffnete und sich seiner herzlich, wenn auch mit spitzen Fingern annahm. Weniger das Wissen um eine wertvolle Zeugin, die den Mörder ihres Onkels identifiziert hatte, war der Auslöser dafür gewesen, sondern jene Art von Nächstenliebe, die sie von dem Mahatma gelernt hatte und die selbst die Parias, die Unberührbaren, einschloss.
    Im Nu war ein – in jeder Hinsicht brüderlicher – Streit entbrannt, wer das Straßenkind letztlich aufnehmen dürfe. Auf der Ziellinie lieferten sich Devadas und Pandit ein Kopf-an-Kopf-Rennen, aus dem schließlich Gandhis Sohn als Sieger hervorging. Allerdings konnte sich der Premierminister den Rang eines Patenonkels erobern und durfte sich damit wenigstens an den Ausbildungskosten für das Mädchen beteiligen.
    »Du musst ein verzauberter Schmetterling sein«, sagte David, als ihm die verwandelte Abhitha vorgeführt wurde.
    Die Kleine lächelte verschmitzt. »Ihr seid zu gütig, Sahib.«
    »Oh bitte! Es genügt schon, wenn Balu darauf besteht, mich so zu nennen. Ich weiß, du hast gerade eine Menge neuer Schwestern, Brüder und Onkel hinzugewonnen, aber lass mich bitte auch zu diesem Kreis gehören. Ich heiße übrigens David.«
    Abhitha senkte verschämt ihre Augen. »Vielen Dank, Davidji. Bist du mir denn nicht mehr böse?«
    »Warum sollte ich das?«
    »Weil ich dich angespuckt habe.«
    David schmunzelte. »Nein, ich bin dir nicht böse. Du warst misstrauisch. Wenn man bedenkt, wie wir uns kennen gelernt haben, wohl nicht einmal zu Unrecht.«
    Auch Abhitha lächelte nun. »Du bist sehr gütig, Davidji.«
    »Leider muss ich dir heute Lebewohl sagen, Abhitha.«
    Das Mädchen sah ihn erschrocken an. »Warum?«
    »Ich habe noch einen langen Weg vor mir.« David seufzte. »Und ich kann dir nicht einmal versprechen, ob er sich jemals wieder mit dem deinen kreuzen wird.«
    Erneut senkte Abhitha den Blick, die Augen nun voller Tränen. »Dann habe ich in zwei Tagen zwei Väter verloren.«
    David spürte einen dicken Kloß im Hals. Nicht einmal achtundvierzig Stunden kannte er dieses Mädchen. Wie schaffte sie es, derart sein Herz anzurühren? Mit einem Mal hielt er sie in den Armen und seine Augen wurden ebenfalls feucht. Sie ist so dünn! »Weine nicht, kleine Abhitha. Zum ersten Mal in deinem Leben sind da jetzt Menschen, denen du etwas bedeutest. Du wirst nicht mehr hungern. Du wirst zur Schule gehen. Und – was am allerwichtigsten ist – du wirst geliebt werden. Ich verspreche hoch und heilig, dir zu schreiben. Selbst wenn wir uns nicht mehr wieder sehen, werde ich dich nie vergessen.«
    »Als du mich in den Armen gehalten und mir die Strähne aus dem Gesicht gestrichen hast, da… « Abhitha schniefte. »Noch nie hat mich jemand so gut behandelt. Ich werde immer an dich denken, Davidji.«
    David schob sie auf Armeslänge von sich und betrachtete noch einmal wie ein stolzer Vater ihr ebenmäßiges Gesicht. »Das ist gut so, meine Kleine. Menschen, die man im Herzen trägt, kann einem niemand nehmen. Und nun wünsche mir Glück. Ich werde es gebrauchen können.«
     
     
    Die Landschaft des Punjab zog wie ein Film an ihm vorbei. David achtete kaum auf die Dörfer, die Frauen in ihren bunten Saris, die Männer mit ihren Turbanen, die Wasserbüffel… Seine Gedanken wanderten hin und her zwischen dem Unfassbaren, das hinter ihm lag, und dem Unwägbaren, das ihn noch erwartete.
    Seine Lebensmeile hatte er fast bis zur Hälfte abgeschritten. Seit der Nachricht von Rebekkas Tod war nichts mehr wie zuvor. In mancher Hinsicht glich er nur noch dem Schatten eines Menschen. Es fiel ihm schwer,
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