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Der Kreis der Dämmerung 02 - Der Wahrheitsfinder

Titel: Der Kreis der Dämmerung 02 - Der Wahrheitsfinder
Autoren: Ralf Isau
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gab. Die angeblich undurchdringlichen Stellungen bei Kujukurihama würden von den alliierten Angreifern innerhalb kürzester Zeit überrannt werden. »Wie sollen wir da die Invasion abwehren können?«, fragte er in die Runde.
    Der Rat schwieg. Erst als Hirohito vor Schwäche schwankte, entstand Unruhe im Raum. Doch der Kaiser fing sich wieder und holte zum letzten Schlag aus.
    »Trauer erfüllt mich, wenn ich an die Männer denke, die mir so treu gedient haben«, sagte er mit bebender Stimme. Noch einmal sprach er offen über seine Gefühle, was vielleicht mehr als alles andere seine tiefe Verzweiflung ausdrückte und die Betroffenheit seiner Zuhörer weckte. Die Anwesenden lauschten ihm reglos, als er das Beispiel einer historischen Niederlage seines Landes anführte – im Jahr 1895 hatte Japan auf Druck Russlands, Deutschlands und Frankreichs die Halbinsel Liaotung an China abtreten müssen – und dann den Bogen zur Gegenwart schlug.
    »Trotz alledem ist die Zeit gekommen, in der wir das Unerträgliche ertragen müssen. So denke ich an die Empfindungen, die meinen Kaiserlichen Großvater, Kaiser Meiji, zur Zeit der Triple-Intervention erfüllt haben müssen, beherrsche meine Tränen und genehmige den Vorschlag, auf der vom Außenminister umrissenen Basis die Proklamation der Alliierten anzunehmen.«
    Im Klartext bedeutete das die Akzeptierung der Potsdamer Erklärung ohne Wenn und Aber, die bedingungslose Kapitulation.
    Hirohito wirkte befreit. David nickte ihm anerkennend über den Tisch hinweg zu. Als der Kaiser den unterirdischen Konferenzraum verließ, erhoben sich alle Anwesenden und verbeugten sich tief.
    Endlich war eine Entscheidung gefallen. Der Gott-Kaiser hatte einen Schiedsspruch erteilt, dem sich niemand widersetzen durfte: »Es soll Frieden sein!«
    Leider sind scheinbar klare Willensbekundungen für professionelle Bedenkenträger noch nie ein ernst zu nehmendes Hindernis gewesen. Dies sollten bald auch der Tenno und sein englischer Ratgeber erfahren.
     
     
    Noch in derselben Nacht wurde im Anschluss an eine Kabinettssitzung ein Telegramm nach Bern geschickt, in der die japanische Regierung die Schweiz darum bat, ein Kapitulationsangebot an die USA und China weiterzuleiten. Fatalerweise fügten jedoch die japanischen Politiker in das Dokument noch einen Passus über die Unverletzlichkeit des Tennos ein. Diese, wie man glaubte, unverzichtbare letzte Bedingung sollte tausenden das Leben kosten.
    Die Alliierten, allen voran der amerikanische Präsident Truman, hatten von »höfischen Speichelleckern« und dem »Boss-System« – soweit es nicht das eigene war – die Nase gestrichen voll. Von einem am Boden liegenden Gegner wollten sie sich nichts diktieren lassen.
    Stalin mochte zwar paranoid sein, war aber dennoch ein ausgekochtes Schlitzohr. Listig nutzte er den mangelnden Einigungswillen der rivalisierenden Kriegsparteien, um noch so viel von den japanischen Reichtümern an sich zu reißen wie nur eben möglich. Während in Washington über die Frage der Abschaffung der Tenno-Monarchie gestritten wurde, starben in China achtzigtausend japanische Soldaten. Sechshunderttausend kamen in die sowjetische Kriegsgefangenschaft. Stalins Armee besetzte die Kurilen und den Südteil der Insel Sachalin.
    Sosehr David diese Entwicklung um der leidenden Menschen willen bedauerte, konnte er doch daran nichts ändern. Er glaubte für den Frieden alles getan zu haben, was in seiner Macht stand. Die gefühllosen Männer des Obersten Kriegsrats mussten nun den Tribut für ihre Unentschlossenheit zahlen. Der »Rat der Toten« zögerte die bedingungslose Kapitulation weitere schreckliche Tage hinaus.
    In Hiroshima wunderten sich die (noch) Lebenden, warum einige von ihnen auf der linken Körperhälfte braun und auf der rechten schwarz waren. Die Bevölkerung von Nagasaki litt unter eiternden Wunden und Haarausfall. Im »Rat der Toten« begriff ohnehin niemand die immense Tragödie der beiden Atombombenabwürfe und daher hielt sich das Mitgefühl für die Toten und Verletzten in Grenzen. Übrigens verhielt es sich bei den alliierten Staatsmännern nicht viel anders. Betroffenheit war ein Luxus, den sich die Nachwelt leisten mochte, die Gegenwart dagegen lebte von der Gewinnung der Macht.
    Am 9. August – dem Tag des Atombombenabwurfs über Nagasaki – war die japanische Kriegsmaschinerie durch den kaiserlichen Schiedsspruch kurz zum Stillstand gekommen, doch die Rangelei um die Unverletzlichkeitsklausel hatte sie
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