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Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind

Titel: Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind
Autoren: Ralf Isau
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später auch über den Weg laufen – rein »zufällig« natürlich.
    Jeff ließ sich Zeit. Er erkundete zuerst den südlichen Seitenflügel. Hier mussten sich die Zimmerfluchten der Gäste befinden. Hinter manchen der durch kunstvolles Schnitzwerk reich verzierten Türen hörte er Stimmen. Mehrmals wäre er um ein Haar irgendwelchen Lakaien in die Arme gelaufen, aber da sein geübtes Auge ständig nach dunklen Winkeln und Nischen Ausschau hielt, gelang es ihm immer wieder, rechtzeitig ein Versteck zu finden.
    Im Erdgeschoss blieb Jeffs Suche erfolglos. Deshalb widmete er sich nun den oberen Stockwerken. Durch ein Fenster konnte er in den großzügigen Park hinausblicken, der sich hinter dem lang gestreckten Querbau befand. Der Garten wirkte ein wenig verwildert: Aus den niedrigen Hecken ragten lange Triebe und der Rasen war viel zu lang. Das mittlere Gebäude reichte weit in diese Anlage hinein. Für einen Vogel am Himmel musste Lord Belials Landsitz also wie ein riesiges Kreuz aussehen. Ob Pater Garrick das wohl gewusst hatte?
    Wie schon unten entdeckte Jeff auch hier im Obergeschoss zahlreiche Anzeichen beachtlichen Reichtums. Abgesehen von den hässlichen Gemälden an den Wänden und den hohen Feuerschalen im Flur sah der Junge in den Zimmern goldene Leuchter, wertvolles Chinaporzellan und immer wieder Waffen. Ganze Räume waren ausgestattet mit Schwertern, Musketen, Hellebarden, Speeren, Armbrüsten und anderem martialischen Gerät.
    Bald erreichte Jeff den Mittelbau. Seltsam, so hektisch es in der Küche zugegangen war, so ruhig bot sich ihm nun das Übrige dieses ausgedehnten Landsitzes dar. Von Negromanus fehlte noch immer jede Spur. Die Erforschung des größten Gebäudeteils brachte wenig Überraschungen. Jeff entdeckte eine umfangreiche Bibliothek, spähte durch Schlüssellöcher weiterer Gästezimmer und fand Räume für kleinere wie auch größere Festlichkeiten. Dabei stieß er zwangsläufig auch auf den Saal, der dem abendlichen Empfang den passenden Rahmen verleihen sollte, unschwer daran zu erkennen, dass eine Schar von Dienern damit beschäftigt war, Tafelsilber auf dem runden Tisch zu verteilen.
    Jeff blickte von einer Galerie in die Halle hinab, die über zwei Stockwerke reichte. Die beiden Längsseiten des Raumes schimmerten matt in dem Sonnenlicht, das durch die dunkel gefärbten Bleiglasfenster drang. An den holzgetäfelten Wänden der Stirnseite sowie am Geländer der Galerie waren zahlreiche farbige Wappen angebracht. Die große Festtafel in der Mitte des Raumes besaß die Form eines Ringes. Der obere Scheitelpunkt dieser Tafel lag unter einem nachtblauen Baldachin. Die Seitenteile des Gestells, das besser zu einem Himmelbett gepasst hätte, waren ebenfalls mit Samtbahnen verhängt. Nur von vorne, vom Tisch her, konnte man in diesen fürstlichen Unterstand hineinsehen, der zweifellos dem Gastgeber des Abends vorbehalten war.
    Auch Jeff kauerte auf der Empore hinter einem blauen Samtvorhang und amüsierte sich über die akribischen Bemühungen eines einzelnen Herrn die nötige Akkuratesse in das blitzende Arrangement der Tafel zu bringen. Es musste sich wohl um den Obersten des Servierpersonals handeln, der da mit einem Zollstock den Abstand zwischen Messern und Gabeln maß, Teller um Haaresbreite verrückte, den Faltenwurf der Seidenservietten korrigierte oder hier und da ein Stäubchen vom weißen Tischtuch fächelte. Als ein Page den Wappensaal betrat und dem livrierten Pedanten etwas ins Ohr flüsterte, war das interessante Schauspiel vorbei. Jeff erinnerte sich wieder an den eigentlichen Zweck seines Hierseins und setzte den Erkundungsgang fort.
    Nachdem er den Mittelbau ohne den erhofften Erfolg durchforstet hatte, kam nun der nördliche Seitenflügel an die Reihe. Auch hier reihten sich die hohen Ständer mit den Feuerbecken auf dem Boden und die griesgrämigen Gesichter an den Wänden. Mit jedem Zimmer, das Jeff – mal lauschend, mal spähend – untersuchte, schwand seine Hoffnung immer mehr. Negromanus blieb unauffindbar. Gleichzeitig wuchs die Versuchung, sich auf anderem Wege eine Entschädigung für das entgangene Entgelt zu verschaffen. Eigentlich wäre das nur gerecht, sagte eine Stimme hinter seiner Stirn, aber eine andere antwortete: Du Dummkopf, solange du nicht aufhörst zu klauen, wird nie etwas Gescheites aus dir werden. Denk an Pater Garricks Worte! Den Kindern des Ungehorsams wird es über kurz oder lang schlecht ergehen. Ist es das, was du willst?
    Nein, sagte sich
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