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Der kranke Gesunde

Der kranke Gesunde

Titel: Der kranke Gesunde
Autoren: Andreas von Pein , Hans Lieb
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einen Verzicht auf Gesundheit entschieden hat und damit dem »Gesunden« einen Dienst erweist. Wir betonen dann oft, dass das ein Beleg dafür ist, dass der »Kranke« die Kraft hat, diese Rolle auf sich zu nehmen. Das ist ein ebenso provozierender wie oft heilsamer Gedanke.
    Wir haben bis hierher einen immer breiter werdenden Blickwinkel auf
das Symptom und den Körper,
auf das Paar Psyche und Körper und
auf diese beiden als Pärchen in der sozialen Welt
    eingenommen. Wir haben dabei gesehen, dass der »psychosomatisch Kranke« in der sozialen Welt nicht nur ein Problem mit sich hat oder ein Problem für andere sein kann, sondern in seiner Krankenrolle auch etwas für andere tun kann.

3. Schritt: Neue Beobachtungen machen
    Zu den Kernmerkmalen der Psyche gehört erstens, dass sie im Wachzustand permanent aktiv ist – sie kann nicht aufhören, wahrzunehmen und zu denken. Da sie dabei zweitens nicht alles zugleich beobachten und denken kann, muss sie sich auf das eine konzentrieren und dabei notgedrungen anderes außer Acht lassen. Mit anderen Worten: Der Strahl ihrer Aufmerksamkeit beleuchtet notgedrungen immer nur »etwas« und muss dabei den Rest oder etwas anderes im Dunkeln lassen. Auch wenn normalerweise die Auswahl dessen, was die Psyche beobachtet und was sie außer Acht lässt, ganz automatisch geschieht, kann sie sich bewusst entscheiden, den Strahl ihrer Aufmerksamkeit einmal auf etwas anderes, neues zu richten. Das geschieht oft dann, wenn ihr andere dabei helfen und sagen: »Du guckst ja immer dahin – schau doch mal dorthin!« Die Psyche kann dann z. B. Ihren gestrigen Tag danach durchgehen, was ihr gefallen hat oder auch danach, was ihr missfallen hat. Sie könnte das berühmte Glas Wasser halb voll oder halb leer sehen. Sie könnte ihren Partner, den Körper, danach absuchen, wo er schmerzt, Übelkeit oder sonstige Beschwerden zeigt oder sie könnte – was die Psyche eines »Psychosomatikers« äußerst selten tut – bewusst darauf achten, welche Körperteile gerade nicht weh tun, welche Funktionen gerade ganz normal funktionieren (z. B. die Atmung) oder wo sie sich sogar ausgesprochen »gut« anfühlen: entspannt, warm, stabil.
Die Aufmerksamkeit auf etwas anderes richten
    Auch wenn der Körper durch Schmerzen oder andere Beschwerden die Psyche zu zwingen scheint, ihre Aufmerksamkeit darauf zu richten, kann sie dem – manchmal erst nach etwas Übung – widerstehen und diese gezielt auf etwas ganz anderes richten – z. B. auf die Augenfarbe des Menschen, der ihr gerade gegenübersitzt. Erfolgreiche Psychotherapien von Depressionen und Ängsten bestehen in wesentlichen Punkten darin, genau solche Aufmerksamkeits- oder Beobachtungsverschiebungen entgegen alten Gewohnheiten vorzunehmen. Das kann man auch in Psychosomatiktherapien nutzen.
    Denn das, was wir beobachten, prägt zusammen mit dem, was wir dabei notgedrungen nicht beobachten, unser Fühlen, Denken und Handeln. Wer unter einem Problem leidet, richtet seine Aufmerksamkeit normalerweise immer mehr auf dieses Problem: Wie stark ist es? Wann kommt es wieder? usw. Man könnte hier ja auch ganz andere Beobachtungen anstellen. Wann tritt das Symptom/Problem nicht auf? Viele Psychotherapien laufen Gefahr, dass Therapeut und Patient viel zu sehr auf das Problem »starren« als auf Problemausnahmen und Stärken. Jeder Patient kann beobachten, wie sein Symptom ihm das Leben schwer macht. Er kann sich aber auch etwas anderes ansehen. In welcher Situation hat nicht das Symptom ihn, sondern er das Symptom beherrscht und wie hat er das gemacht? Leider sind auch die Symptom- oder Problembeobachtungen nach dem Prinzip des »Wiederholungszwangs « organisiert. Wir sehen meistens das, was wir immer sehen: Das ist der »Schonwieder-Blick.« Dabei bleibt verborgen, was wir »noch« sehen könnten und was wir übersehen. Man muss schon mit einem Botaniker unterwegs sein, um zu entdecken, wie viele Pflanzen, Blüten und Rindenformen man noch nie gesehen hat, auch wenn man tausendmal daran vorbeigelaufen ist.
    ÜBUNG
    Den »Blickwechsel« üben
    Schauen Sie einmal bei sich selbst, worauf Sie – wenn es um Ihre Symptome geht – Ihre ganze Aufmerksamkeit gerichtet haben? Worauf haben Sie weniger oder gar nicht geachtet? – Worauf können Sie daher in den nächsten zwei Wochen Ihre Aufmerksamkeit richten, wenn es darum geht, einmal Positives statt Negatives zu entdecken: symptomfreie Zeiten? Ein Abnehmen Ihrer Beschwerden – und seien diese noch so klein?
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