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Der kranke Gesunde

Der kranke Gesunde

Titel: Der kranke Gesunde
Autoren: Andreas von Pein , Hans Lieb
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ihnen als Krankem zurückgehalten aus Angst, den Krankheitsprozess sonst zu fördern. Solche Fixierungen finden auch in der »Gesundenrolle« statt: Bettina hat sich vielleicht angewöhnt, vor Martin alles das von sich selbst zurück- oder geheimzuhalten, von dem sie denkt, das könnte ihn belasten. Am Ende weiß sie selbst nicht mehr: Macht sie das aus Fürsorge, aus Angst vor Konflikten oder benutzt sie diese Rollenverteilung in ihrer Partnerschaft auch, um selbst nichts verändern zu müssen? Man kann am Ende ja (fast) alles mit der Kranken- und Gesundenrolle begründen.
Und nun ein Blick auf die »Gesundenrolle«
    Eine auf Dauer gestellte Gesundenrolle hat auch erhebliche Vorteile. Man fühlt sich darin als der Stärkere. Manche Unzufriedenheit mit sich selbst oder mit dem »Kranken«, die es sonst auch gäbe, kann man mit dieser Rolle erklären. Vor allem kann man erklären, warum man nichts verändert: Wegen der Krankheit und wegen der Pflichten als Gesunder! Ein extremes Beispiel: Die weitgehende Unzufriedenheit über das Zusammenleben mit einem Partner wird allein mit dessen Krankheit begründet und ebenso, warum man bleibt (»Man verlässt doch keinen Kranken!«). Nur: Man wäre mit dem anderen auch dann unzufrieden, wenn dieser zwar gesund ist, ansonsten aber der Gleiche bliebe. Gesunde, die in ihrer Krankenfürsorge aufgehen, können daraus viel Gewinn ziehen. Oder sie haben ein gut vor sich selbst verborgenes Problem, das offenbar würde, wenn beide Seiten aus ihren Rollen aussteigen würden. Was würden sie mit sich und dem anderen anfangen, wenn der andere sie nicht mehr als Kranker bräuchte? Das kann so weit gehen, dass auf unbewusster Ebene der Kranke mit seiner Krankenrolle dem »Gesunden« einen großen Dienst erweist und ihn von der Notwendigkeit befreit, sich mit seinen eigenen Themen und Problemen zu beschäftigen und dort etwas verändern zu müssen.
    ÜBUNG
    Fühlen Sie sich in Ihrer Rolle noch wohl?
    Das gute an Rollen ist, dass man aus ihnen aussteigen kann. Oder man kann sie mal einnehmen und mal ablegen – also ein Sowohl-als-auch und kein Entweder-oder. Hat sich die Psyche des Kranken an das Kranksein gewöhnt, fühlt, denkt und verhält sie sich so. Viele Fähigkeiten und Fertigkeiten schlummern dann in Psyche und Körper und werden erst »wachgeküsst«, wenn sich die Psyche entscheidet, aus dieser Rolle auszusteigen – oder wenn sie dazu gezwungen wird, weil der andere Partner aus seiner Rolle ausgestiegen ist. Das hat normalerweise eine befreiend wirkende Veränderung im System zur Folge mit vorübergehenden Turbulenzen, wie das bei Systemveränderungen üblich ist. Diese befreiende Komponente hat damit zu tun, dass die einengende Macht wegfällt, die solche Rollenfixierungen in der sozialen Welt über die Psyche der Systemmitglieder hatte. Jede Rolle hat aber die Freiheit (oder manchmal auch: die Qual der Wahl), wann man in sie einsteigen und wann oder in welchem Rahmen man aus ihr aussteigen will.
    Welche »Funktion« könnte Ihre Rolle haben?
    Bitte bedenken Sie, dass es für jede Roll e gute Gründe gibt. Einer der wichtigsten dürfte sein, dass diese Rollen der Psy che oder dem Körper auf direkte oder indirekte Weise gute Dienste erweisen: Sie erfüllen menschliche Grundbedürfnisse. Wenn Sie diese Rolle ablegen wollen, ist es wichtig, diese Bedürfnisse zu erkennen und andere Wege zu finden, um sie zu erfüllen. Das sind zum Beispiel:
Schutz: Wer leidet, bedarf des Schutzes! Oft erfährt ein Patient als Kranker den Schutz, den er als Kind nicht erfahren hat. Oder er gesteht sich seine Sehnsucht danach nur in dieser Rolle ein.
Trost: Psyche und Soma erhalten tröstende Zuwendung, wenn der Körper leidet. Und manch Gesunder kann die Wohltat, Trost zu spenden, leichter Kranken als einem Gesunden geben.
Nähe: Rund um körperliches Leid kommen sich Menschen näher: im Gespräch, am Krankenbett, in der Fürsorge.
Geborgenheit: Im Leiden Schutz zu erhalten, vermittelt der Psyche ein Gefühl von Geborgenheit und dem anderen, sie geben zu können.
Verständnis: Viele Menschen erfahren im und durch ihr Leiden bei anderen mehr Verständnis als sonst. Manchmal ist das etwas, was sie sehr vermisst haben.
    Wird der Kranke gesund oder verhält sich plötzlich gesund, kann das den bisher Gesunden irritieren und ihn in eine Krise stürzen. Wir sagen deshalb in Therapien manchmal – für Patienten und Angehörige oft unerwartet und irritierend –, dass der Kranke sich in seiner Rolle für
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