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Der Kranich (German Edition)

Der Kranich (German Edition)

Titel: Der Kranich (German Edition)
Autoren: Manuela Reizel
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gaben unter ihm nach, und Gustav Elvert sank auf die Holzstufen. Fassungslos starrte er auf das gefaltete Blatt in seiner Hand. Bei genauerem Hinsehen konnte er zwischen den Flügeln erkennen, dass etwas auf das Papier gedruckt war. Es war kein Text, sondern eine zusammenhangslose Reihe von Buchstaben und Zahlen. Es sah aus wie ein Code. Wenn er überhaupt noch den Hauch eines Zweifels gehabt hätte, brach dieser nun im Bruchteil einer Sekunde in sich zusammen. Gustav Elvert drückte den Origamivogel an seine Brust und rang nach Luft.
    Tränen strömten über sein Gesicht.
    Zwanzig Minuten später betrat der Therapeut zum ersten Mal seit zwei Wochen wieder seine Praxisräume. Er stellte den Kranich auf das kleine Tischchen, das sich zwischen den beiden Sesseln befand, so, dass er ihn immer würde im Blick haben können, wenn er Klienten empfing.
    Dann öffnete er die Fenster weit, blickte in den blauen Himmel hinaus und atmete die frische Februarluft. Plötzlich ahnte er, was Thomas Lamprecht empfunden haben musste, als er das Gefängnis verließ. Doch er ahnte nicht, was er augenblicklich empfand. Was er durchmachte.
    Elvert setzte sich an seinen Schreibtisch, griff zum Telefon und rief ihn an. Als er erfuhr, dass Lamprecht sich noch nicht dazu hatte entschließen können, den Kollegen aufzusuchen, den er ihm empfohlen hatte, bot er ihm einen Termin für den nächsten Tag an. Thomas Lamprecht nahm dankbar an.
    Nachdem er den Hörer aufgelegt hatte, blieb Gustav Elvert eine Zeitlang mit der Hand auf dem Telefon bewegungslos sitzen und starrte aus dem Fenster. Endlich gab er sich einen Ruck, hob den Hörer erneut ab und wählte die Nummer der Seniorenresidenz Talblick. Kurz darauf hörte er die Stimme seines Vaters. Sie klang müde, aber fest und klar, so, wie er es gewohnt war. Es war kein langes Gespräch, doch das war auch nicht nötig.
    Es war ein Anfang.
    Schließlich sammelte Elvert die Schachfiguren ein, verstaute sie sorgfältig in ihrer Schachtel und stellte das Brett zur Seite. Dann schloss er die Fenster und verließ die Praxis.
    Eine Stunde später kehrte er zurück, geduscht und rasiert und mit einer Tasse Kaffee ohne Cognac in der Hand. Er fuhr den Computer hoch und vertiefte sich seine Klientenakten.
    Erschöpft und etwas außer Atem kehrte Karin Kutscher um kurz vor sechs in ihr Sprechzimmer in der Waldeck-Klinik zurück. Ein anstrengender Arbeitstag lag hinter ihr. Zwei Gruppen- und vier Einzelsitzungen, anschließend noch eine Stationsvisite, und die Mittagspause war für eine nervenaufreibende Teambesprechung draufgegangen. Der Köperwahrnehmungstherapeut lag mit der Psychodramatherapeutin im Clinch darüber, wie mit den kritischen Anorexiepatientinnen verfahren werden sollte und wo die Gewichtsgrenze zu ziehen war. Für Karin Kutscher handelte es sich bei der ganzen überflüssigen Diskussion nicht um ein fachliches, sondern eindeutig um ein Profilierungsproblem, und letztendlich hatte sie sich mit ihrer antiautoritären Position durchsetzen können. Doch sie wusste nur allzu gut, um welchen Preis. Sobald eines der Mädchen zusammenbrach, würde man sie dafür verantwortlich machen.
    Das Mittagessen war jedenfalls ausgefallen.
    Seufzend ließ sie sich auf einen der Sessel fallen, schloss für einen Moment die Augen und versuchte sich zu entspannen. Der Tag war noch nicht vorbei. Um achtzehn Uhr hatte sie einen Termin mit Gustav Elvert vereinbart, und er hatte fest versprochen, dass er diesmal erscheinen würde. Vierzehn Tage waren seit ihrem letzten Gespräch verstrichen. Dem Gespräch, nachdem er von dem tragischen Tod seines Klienten erfahren hatte, und dem Gespräch über Laura, die lebte, die jedoch seiner Meinung nach auch fast gestorben wäre – durch seine Schuld. Es war offensichtlich, dass er sich nicht das Geringste vorzuwerfen hatte, weder im einen noch im anderen Fall, doch das konnte er in seinem augenblicklichen Schockzustand nicht sehen. Während er bei ihr war, hatte sie das Gefühl gehabt, er habe sich etwas entspannt und sei bereit, sich auf sie einzulassen, doch das hatte sich nach den beiden kurzen Telefonaten, die sie seither geführt hatten, dramatisch geändert. Vielleicht hatte sie den Druck, unter dem er stand, unterschätzt. Vielleicht war es zu früh gewesen, ihn auf die andere Sache anzusprechen, und vielleicht hätte sie schon längst … Karin Kutscher biss sich auf die Lippen. Sie wusste, dass es nicht gut um ihn stand, doch auch in der Klinik waren die vergangenen
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