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Der Kranich (German Edition)

Der Kranich (German Edition)

Titel: Der Kranich (German Edition)
Autoren: Manuela Reizel
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auch.“
    Thomas Lamprecht lächelte gequält. Er wusste, wenn er nicht alles verlieren wollte, was ihm etwas bedeutete, gab es nur einen Weg. „Komm her, bitte. Ich muss … mit dir sprechen.“
    Judith legte das Geschirrtuch zur Seite und setzte sich neben ihn. Ihre Fingerspitzen berührten sich leicht auf der Tischplatte.
    „Es gibt etwas, das du wissen musst, bevor wir …“, er suchte nach den richtigen Worten, die es nicht geben konnte. Obwohl es im Raum kühl war, brach ihm der Schweiß aus. Er versuchte Luft zu bekommen, unter dem Mühlstein, der seine Brust zu zerquetschen schien. „Ich habe wahrscheinlich einen Menschen auf dem Gewissen, Judith.“
    Sie blickte ihn ernst und schweigend an. Er erzählte ihr alles. Von Dr. Elvert, von Lukas, von dem Programm, von der Organisation. Alles, was er wusste.
    „Die Polizei tappt im Dunkeln. Sie sagen, er hat sich das Leben genommen, aber das ist nicht wahr.
Die
haben ihn getötet, oder sie haben ihn noch immer in ihrer Gewalt, was fast auf dasselbe herauskommt, und es ist meine Schuld.“
    „Du musst dem Kommissar sagen, was du weißt.“
    „Sie würden mir niemals glauben. Ich bin auf Bewährung, vergiss das nicht. Die warten doch nur darauf, mir wieder was anzuhängen.“
    „Thomas …“
    „Hör mir zu, Baby, ich meine das verdammt ernst: Ich liebe dich. Und ich liebe Nina. Ich würde euch in Gefahr bringen, wenn ich mit den Bullen rede. Außerdem
kann
ich nicht noch mal in den Knast gehen. Ich kann es nicht, verstehst du? Eher sterbe ich.“
    Sie griff nach seinen Händen. Ihre Berührung fühlte sich so warm und tröstlich an, dass er einen Moment lang fürchtete, die Fassung zu verlieren.
    „Okay. Ich verstehe. Niemand wird das tun. Niemand wird dich einsperren. Aber du brauchst Hilfe. Hilfe, die ich dir nicht geben kann. Du hast gesagt, dass dieser Psychologe in Ordnung ist, richtig?“
    Er nickte.
    „Ruf ihn an.“

26
    Gustav Elvert saß am Küchentisch und rührte seit einer halben Stunde in seinem Milchkaffee herum. Obwohl es schon fast Mittag war, trug er Morgenmantel und Pantoffeln, und die Barthaare auf seinem Kinn hatten inzwischen eine beachtliche Länge. Es spielte keine Rolle. Es gab keine Klienten, für die er sich in einen ansehnlichen Zustand bringen musste, und seine wenigen Freunde hatte er abgewimmelt. Seit Tagen war Ruhe eingekehrt in seinem Haus, und das war gut so.
    Über den Anruf von Thomas Lamprecht hatte er eine Zeitlang nachgedacht. Er ließ ihn keineswegs unberührt. Es war ein Hilferuf gewesen, und das war auch nicht weiter verwunderlich. Lamprecht würde viel Hilfe brauchen in der nächsten Zeit. Nur dass er, Gustav Elvert, ihm diese Hilfe nicht geben konnte, so gerne er es auch getan hätte. Nicht jetzt. Wie hätte er jemandem in einer derartig dramatischen Krise beistehen können, wenn er noch nicht einmal dazu in der Lage war, sich selbst zu helfen? Er hatte ihm die Nummer eines fähigen Kollegen gegeben.
    Seufzend kippte Elvert einen großzügigen Schuss Cognac in den bereits kalten Kaffee und führte die Tasse zum Mund.
    Die Einzige, die sich partout nicht abwimmeln lassen wollte, war Karin Kutscher. Nach dem Gespräch, das er mit ihr über Laura gehabt hatte, hatte er sich zuerst erleichtert gefühlt. Aber danach wurde es erst richtig schlimm. Er hatte es plötzlich nicht mehr geschafft, am Morgen aufzustehen. Die alltäglichsten Dinge wurden zum Kraftakt. Und schließlich hatte er aufgegeben. Zwei Termine mit Karin hatte er bereits abgesagt, beim letzten Mal hatte sie ihm damit gedroht, ihn persönlich zu holen, wenn er am Montag nicht erschiene. Montag … Was für einen Tag hatten sie eigentlich? Elvert rechnete nach und kam zu dem Schluss, dass es bereits Montag sein musste. Verdammt! Mühsam stand er auf und schüttete den restlichen Kaffee-Cognac in die Spüle. Er konnte sie nicht wieder versetzen. Das hatte sie nicht verdient. Glücklicherweise war der Termin erst am Abend, er hatte also noch etwas Zeit.
    Er überlegte, ob er zuerst ins Bad oder zum Briefkasten gehen sollte, entschied sich schließlich für den Briefkasten. Normalerweise befanden sich sowieso nur Rechnungen darin – und ein Haufen schwachsinniger Werbung natürlich. Er schlurfte die Treppe hinunter, nahm den Inhalt des Kastens in die Hand und wollte eben wieder nach oben gehen, da erstarrte er plötzlich. Augenblicklich ließ er alles fallen. Alle Briefe, alle Werbebroschüren.
    Alles außer den kleinen weißen Papierkranich.
    Die Beine
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