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Der Kontinent der Lügen

Der Kontinent der Lügen

Titel: Der Kontinent der Lügen
Autoren: James Morrow
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abgegeben wurde) eine noch
dürftigere Anwesenheitsliste und ein
Zwischenprüfungsergebnis von 43 von 100 möglichen Punkten
kam, traf sein Fachbereichsleiter eine folgenschwere
Entscheidung.
    Von Clee Selig persönlich aus der Wendcraft-Universität
hinausgeschmissen zu werden war für einen Nachwuchsweber alles
andere als eine Lappalie. Man meldete sich nicht einfach bei der
nächsten Lehranstalt ein Stück weiter unten an der
Straße an. Exkommunikation war ein treffenderes Wort
dafür als Hinauswurf. Von diesem Augenblick an bewegten
sich die Chancen, einen Züchter zu finden, der einem seine
Träume finanzierte, zwischen unwahrscheinlich und undenkbar.
    »Und so kam es, daß ich meinen besten Schüler
zugrunde richtete«, sagte Selig nachdenklich, wobei er seinen
Cognac schwenkte, »und mich zum Ziel seiner Rache machte. Die
Giftschlange muß angefangen haben, sich nachts in die Studios
zu schleichen – geheime Experimente, ein fanatischer Krieg gegen
den Zweifel –, und ehe das akademische Jahr um war, hatte er
seinen Lotosfaktor tatsächlich gefunden.« Selig hob sein
Glas zu einem spöttischen Toast. »Kusk setzt also die Samen
ein, der Sämling trägt seine erste richtige Frucht, und er
schmuggelt die Träume in den Vorka-Salon.«
    »Was kann es wohl gewesen sein? Sowas wie eine perfekte
Horrorkapsel?«
    Blitzkrallen streckten sich über den Himmel. Regen prasselte
heftig an die Fenster, als ob tausend kleine Tunichtgute Seligs Villa
mit Kieselsteinen bewerfen würden.
    »Wahrscheinlich entzog es sich den Kategorien, die ihr
Kritiker so gern benutzt. Als die Nachricht von dem Massaker auf die
Bildschirme kam, hatte ich gleich den Verdacht, daß eine
Lotoskapsel dahintersteckte und daß Kusk darauf aus war, mich
zu vernichten. Er wollte meine Kinder dermaßen in
Mißkredit bringen, daß ich zum Paria werden würde.
Ich muß zugeben, daß ich nicht so recht weiß, warum
ich nicht gelyncht wurde. Wenn Kusk weitergemacht und noch mehr
Massaker verübt hätte, würden wir jetzt nicht hier
sitzen und miteinander reden, das versichere ich Ihnen. Ich
wäre… ich wäre…«
    »Aber er hat keine weiteren Massaker
verübt.«
    »Nein. Der Grund ist, daß er gestorben ist. Ich habe
ihn getötet.«
    Mein Herz tat etwas, was Herzen normalerweise nicht tun. Aber ich
beschloß, Selig erklären zu lassen, was er damit
meinte.
    »Ich habe ihn nicht vorsätzlich ermordet«,
behauptete der Erfinder. »Ich bin ja kein Ungeheuer. Falls diese
Ereignisse je vor Gericht kämen, würde ich darauf
plädieren, daß ich ein viel größeres Verbrechen
verhindert habe. Es geschah nicht lange nach Vorka. Die Monde waren
hinter Wolken verborgen, es regnete Bindfäden, und ich machte
eine Sturmwanderung von Acheron Hall nach Hause, zerbrach mir den
Kopf über die Tragödie und fragte mich, ob ich der Polizei
von meiner Theorie erzählen sollte. Und plötzlich kam
jemand angelaufen und schlug mich von hinten nieder.«
    »Kusk?«
    »Kusk. Ich kam in der gräßlichsten Bruchbude zu
mir, die ich je gesehen habe – ein kleiner dunkler Raum, alles
von Schmutz bedeckt, mit einer flackernden Glühbirne als
einziger Beleuchtung. Kusk zeigte mir seinen widerlichen
Sämling, der von Lotoskapseln wimmelte. Er wuchs direkt aus dem
Lehmboden heraus. Er hatte einen Spaten in der Hand, und als ich ihn
danach fragte, sagte er, daß er den Baum ausgraben und zu einem
Hydrasteroidengürtel verfrachten werde. ›Zu einem
Hydrasteroidengürtel‹, wiederholte er immer wieder, um mich
zu verhöhnen. ›Zu einem
Hydrasteroidengürtel.‹«
    Ein Hydrasteroidengürtel. Es gab einmal eine Zeit, da
rühmte sich mehr als ein Drittel aller bewohnten Sternsysteme,
einen Gürtel wasserhaltiger, terraformierter,
nährstoffreicher Asteroiden um ihre Hauptplaneten herum zu
besitzen. Hydrasteroiden. Jedesmal, wenn ein brachliegender
Hydrasteroid ein Schlingbaumbaby bekam, paßte ein
professioneller Züchter auf, daß sich eine Truppe von
Farmarbeitern um ihn kümmerte. Sie düngten es,
beschäftigten sich eifrig mit ihm und wickelten es mit
Kohlendioxid, bis es heranwuchs und in seiner Reifezeit Millionen,
buchstäblich Millionen psychoaktiver Früchte trug. Das Wort Schlingbaum ist natürlich irreführend, denn die
erwachsene Ausgabe der Gattung war zweifellos eher ein Wald als ein
Baum und eher ein Pflanzenkontinent als ein Wald. Ein Schlingbaum
überzog seinen Mutter-Hydrasteroiden wie Moos einen Stein.
    »Dann hatte er es also auf einen Völkermord
abgesehen«, sagte
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