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Der Kontinent der Lügen

Der Kontinent der Lügen

Titel: Der Kontinent der Lügen
Autoren: James Morrow
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Moralbegriffen
der Öffentlichkeit. Vielleicht hätte meine schicksalhafte
Begegnung mit Clee Selig niemals stattgefunden, wenn Iggi mir nicht
genau erklärt hätte, welche Straßen ich nehmen
mußte, nachdem ich um den halben Planeten herum zu einer
Küstenstadt namens Utuk geschleust worden war.
    Utuk war auf der Karte. Ihr mickriger Teleporthafen, der nicht
mehr als ein Dutzend Reisende gleichzeitig abfertigen konnte,
genoß offenbar die allerbeste Wartung, denn nach meiner
Dekonstruktion in Shadu wurde ich dorthin transportiert und ohne
einen Kratzer wieder zusammengesetzt. Ich mietete einen Schwebewagen
und folgte dann den verschlungenen Pfaden zur Universität,
angetrieben vom pfeifenden Wind und dem peitschenden Regen, die in
dieser Gegend zu den beständigen Realitäten gehörten.
Zu jener Zeit war Wendcraft eine Legende, die bereits Risse bekam.
Verschwunden und vergessen waren auch die hohen finanziellen
Zuwendungen und renommierten Professoren aus den halkyonischen Tagen
der Universität, jener Periode, als der Faustina-Impfstoff, die
temporale Trifurkationstheorie und der Pseudokortex- Android
für die Fakultät zum normalen Tagewerk gehörten. Nur
ein Fachbereich, Seligs Privatschule für Traumweber, zog
weiterhin die besten Studenten an, und das auch nur deshalb, weil der
Mann, der die Phrensamen zusammengebraut hatte, immer noch derjenige
war, der das Rezept am besten an die Schüler weitergeben
konnte.
    Ich kam kurz nach Einbruch der Dunkelheit auf dem Campus an, bog
bei einer abstrakttektonischen Skulptur des berühmten
Neodekadenten Lucaizai vorschriftsmäßig rechts ab und
stellte fest, daß ich die Straße mit einem
hochgewachsenen, bärtigen, mit einem Regenschirm bewaffneten
Fußgänger teilte. Als ich anhielt, drückten wir beide
sofort auf Knöpfe – er auf einen, der seinen Regenschirm im
Griff verschwinden, ich auf einen, der die hintere Hälfte der
Sichtkuppel beiseitegleiten ließ. Einen Kilometer weiter vorn
schimmerten die sanft strahlenden Scheiben und Rechtecke von Seligs
vielfenstriger Villa durch den strömenden Regen.
    »Mr. Quinjin?« erkundigte sich Selig mit einer
blechernen Stimme, die mir von Iggis Mimikry her vertraut war. Er
ließ sich auf dem Rücksitz nieder und verbreitete den
Geruch von schlechtem Wetter.
    »Nur Quinjin«, erwiderte ich und machte die Kuppel
wieder dicht. »Eine Kritikermarotte.«
    Vielleicht können Sie sich am ehesten ein Bild von meinem
Mitfahrer machen, wenn Sie an eine dieser Evolutionsschautafeln
denken, die zeigen, wie die Gattungen des Tier- und Pflanzenreichs
wie im Gänsemarsch von Amphibien über Reptilien und
Säugetiere bis zu Menschenaffen und so weiter aus dem Meer
heraufgestiegen sind. Mit seiner enorm hohen Stirn, dem weißen
Rauschebart und der stocksteifen Haltung gehörte Selig irgendwo
zwischen Homo sapiens sapiens und die niederen Engel. Er
erklärte, daß Sturmwandern, wie er es nannte, sein zweites
Lieblingshobby sei (gleich nach Lucaizai-Skulpturen) und daß er
mich in Anbetracht meiner komplizierten Anreise eigentlich erst
später am Abend erwartet habe. All das und noch viel mehr
äußerte er mit einem derart hypnotischen
Erzähltalent, daß ich fast nichts von den Prozeduren
mitbekam, durch die wir schließlich in seiner Bibliothek im
ersten Stock der Villa landeten.
    Iggi, der mit etlichen Stunden Vorsprung vor mir in Wendcraft
angekommen war, servierte uns Cognac. »Eigentlich bin ich ja ein Spion«, sagte er und verzog sich schmollend.
    Eine kultivierte Einrichtung, ein loderndes Feuer, Dutzende von
Lucaizai-Originalen, Hunderte seltener Bücher und eine
Atmosphäre verfallender Intelligenz: All diese erfreulichen
Dinge führten dazu, daß der Raum sofort und
vollständig mein Herz gewann. Innerhalb kürzester Zeit
hatte ich ziemlich viel von mir preisgegeben – meinen Ärger
über meine Scheidung, wie stolz ich war, Vater zu sein –,
aber was Selig eigentlich interessierte, schienen meine Erfahrungen
in den Psychosalons zu sein.
    »Sie berichten über viele Äpfel aus dem
Horror-Genre«, erklärte er, während er sich in voller
Länge auf sein Sofa drapierte und sich dann sofort wieder
aufrichtete wie ein Leichnam, bei dem die Totenstarre eintrat. Hinter
seinem majestätischen Äußeren war Selig ein
zerrissener, besorgter Mann, das konnte ich sehen.
    »Horrorkapseln sind nicht gerade meine Stärke«,
protestierte ich und ließ meinen Korpus in einen stattlichen
Sessel sinken. »Das Beste, was ich je geschrieben habe,
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