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Der Kommissar und das Schweigen - Roman

Der Kommissar und das Schweigen - Roman

Titel: Der Kommissar und das Schweigen - Roman
Autoren: H kan Nesser
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zurückging.
     
    »Da ist eine Frau, die dich sprechen möchte.«
    Er registrierte, dass Frau Miller das Wort »Polizeichef« vermied. Das hatte sie die ganze Zeit schon gemacht; anfangs hatte ihn das etwas irritiert, inzwischen ignorierte er es.
    »Am Telefon?«
    »Genau.«
    »Ich übernehme das Gespräch.«
    Er nahm den Hörer hoch und drückte auf den weißen Knopf.
    »Ist das die Polizei?«
    »Ja.«
    »Ein Mädchen ist verschwunden.«
    Die Stimme war so leise, dass er sich anstrengen musste, sie zu verstehen.
    »Ein Mädchen? Mit wem spreche ich denn?«
    »Das kann ich nicht sagen. Aber aus Waldingen ist ein Mädchen verschwunden.«
    »Waldingen? Können Sie etwas lauter sprechen?«
    »Aus dem Lager des Reinen Lebens in Waldingen.«
    »Sie meinen diese Sekte?«
    »Ja. Aus deren Konfirmationslager in Waldingen ist ein Mädchen verschwunden. Mehr kann ich nicht sagen. Sie müssen sich um die Sache kümmern.«
    »Warten Sie. Wer sind Sie? Von wo aus rufen Sie an?«
    »Ich muss jetzt aufhören.«
    »Warten Sie doch ...«
    Dann war das Gespräch unterbrochen. Kluuge hatte zwanzig Minuten lang nachgedacht. Schließlich hatte er Frau Miller damit beauftragt, die Nummer von Waldingen herauszusuchen  – schließlich gab es ja da draußen nur diese alten
Ferienlagergebäude –, und kurz danach hatte er selbst dort angerufen.
    Hatte eine sanfte Frauenstimme ans Telefon bekommen und ihr erklärt, dass man Informationen darüber bekommen habe, wonach eine der Lagerteilnehmerinnen verschwunden sei. Die Frau am anderen Ende hatte aufrichtig überrascht geklungen und gesagt, dass jedenfalls beim Essen vor zwei Stunden niemand gefehlt habe.
    Kluuge hatte sich bedankt und aufgelegt.
    Das zweite Gespräch war dann gestern gekommen. Eine halbe Stunde vor Dienstschluss. Frau Miller war bereits nach Hause gegangen, und die Nummer der Zentrale war auf das Telefon des Polizeichefs umgestellt gewesen.
    »Ja. Polizeichef Kluuge hier.«
    »Sie haben nichts gemacht.«
    Die Stimme klang diesmal etwas kräftiger. Aber zweifellos war es die gleiche Frau. Die gleiche angespannte, erzwungene Ruhe. Irgendwo zwischen Vierzig und Fünfzig wahrscheinlich, aber Kluuge wusste, dass er nicht besonders gut darin war, das Alter von jemandem zu schätzen.
    »Mit wem spreche ich?«
    »Ich habe gestern angerufen und Ihnen gesagt, dass ein Mädchen verschwunden ist. Sie haben nichts gemacht. Wahrscheinlich wurde sie ermordet. Wenn Sie nicht eingreifen, bin ich gezwungen, mich an die Zeitungen zu wenden.«
    Da hatte Kluuge das erste Anzeichen von Panik gespürt. Er schluckte und dachte fieberhaft nach.
    »Woher wissen Sie, dass ein Mädchen verschwunden ist? Ich bin der Sache nachgegangen. Es wird in Waldingen niemand vermisst.«
    »Haben Sie angerufen und nachgefragt? Das ist doch klar, dass die alles abstreiten.«
    »Wir haben einige Kontrollen durchgeführt.«
    Er fand selbst, dass das eine gute Formulierung war, aber die Frau ließ sich nicht damit abspeisen.
    »Wenn keiner eingreift, werden noch mehr sterben.«

    Dann sagte es Klick. Kluuge blieb eine Weile mit dem Hörer in der Hand sitzen, bevor er auflegte und stattdessen auf Lilian Malijsen im Brautschleier und Goldrahmen starrte, die ganz außen auf der Schreibtischecke stand.
    Mein Gott, durchfuhr es ihn. Und wenn sie jetzt die Wahrheit sagt?
    Er hatte so einiges über Das Reine Leben gehört. Und gelesen. Nach allem, was er verstanden hatte, beschäftigten die sich so mit allem Möglichen.
    Zungenreden.
    Teufelsaustreibung.
    Sexuelle Rituale.
    Obwohl Letzteres sicher nur ein übel wollendes Gerücht war. Böses Gerede und der übliche gutbürgerliche Neid. Quatsch! dachte Kluuge und ging dazu über, von neuem den Holunder zu betrachten, aber irgendwo tief in seinem Inneren  – wahrscheinlich ganz tief drinnen im Kerngehäuse seiner Gefühle, um einen von Deborahs jüngsten Lieblingsausdrücken zu verwenden – war ihm klar, dass es doch ernst war.
    Ernst. Da war etwas in der Stimme der Frau. Da war auch etwas in der Situation selbst: sein eigenes unverschämt wohlgeordnetes Dasein – Deborah, das Reihenhaus, die Vertretung als Polizeichef, die perfekten Morgenstunden ... da war es eigentlich nur recht und billig, wenn so etwas hier auftauchte.
    Denn es musste immer einen Ausgleich geben, wie sein Vater zu sagen pflegte. Zwischen Plus und Minus. Zwischen Fortschritt und Rückschlag. Sonst lebt man nicht.
    Er schob sich einen Bleistift in den Mund. Begann gedankenverloren auf ihm
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