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Der Kommandant und das Mädchen

Der Kommandant und das Mädchen

Titel: Der Kommandant und das Mädchen
Autoren: Pam Jenoff
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der anderen Seite des Flusses, gut einen halben Kilometer weiter südlich, beginnt das Ghetto. Ich drehe mich in diese Richtung und denke an meine Eltern. Wenn wir bis zur Mauer gehen, kann ich sie womöglich sehen. Vielleicht kann ich ihnen sogar etwas von dem Essen zustecken, das ich soeben gekauft habe. Krysia würde das nichts ausmachen. Doch dann halte ich inne. Ich kann es nicht wagen – nicht am helllichten Tag und nicht mit einem Kind an der Hand. Ich schäme mich für meinen Magen, weil der nicht mehr vor Hunger knurrt, und für meine Freiheit, dafür, dass ich durch die Straßen meiner Stadt gehe, als gäbe es weder Besetzung noch Krieg.
    Am späten Nachmittag kehren Łukasz und ich nach Chelm zurück, in jenes ländliche Viertel, das unser Zuhause geworden ist. Meine Arme tun mir weh, weil ich nicht nur die Einkäufe, sondern auf den letzten Metern auch den Jungen tragen muss. Als wir um jene Ecke biegen, an der sich die Hauptstraße gabelt, atme ich tief ein. Die Luft ist inzwischen noch kälter geworden, ihre Klarheit wird nur von einem stechenden Geruch gestört, weil ein Bauer in der Nähe abgestorbenes Gestrüpp verbrennt. Ich kann das Feuer sehen, das auf dem sanft ansteigenden Ackerland zu meiner Rechten schwelt. Dichter Rauch zieht über die Felder, die sich wie die Wellen einer sanften See bis zum Horizont erstrecken.
    Wir biegen nach links ein in die Straße, die im unteren Teil von Bauernhöfen gesäumt wird und sich im weiteren Verlauf durch die bewaldeten Hügel von Las Wolski schlängelt. Nach gut fünfzig Metern erreichen wir Krysias Haus, ein zweigeschossiges Landhaus aus dunklem Holz, umgeben von Kiefern. Eine Rauchwolke steigt aus dem Kamin auf, als wolle sie uns begrüßen. Ich setze den Jungen ab, der vorausläuft. Krysia hört seine Schritte, kommt hinter dem Haus hervor und nähert sich dem Tor. Mit ihrem hochgesteckten silbergrauen Haar sieht sie aus wie jemand, der für einen Opernbesuch bereit ist, doch ihre Hände stecken in Gartenhandschuhen aus sprödem Leder, nicht in Seiden- oder Spitzenhandschuhen. Schmutz bedeckt den Saum ihres Arbeitskleids, das schöner ist als alles, was ich wohl je mein Eigen nennen werde. Als sie Łukasz sieht, zeichnet sich auf Krysias faltenlosem Gesicht ein Lächeln ab. Sie vergisst für einen Moment ihre formvollendete Haltung, bückt sich und hebt den Jungen hoch.
    “Ist alles gut gegangen?”, fragt sie, während ich näher komme. Sie lässt Łukasz auf ihrer Hüfte wippen und betrachtet sein Gesicht. Mich sieht sie nicht an. Es macht mir nichts aus, dass ihre ganze Aufmerksamkeit dem Kind gilt. Seit der Zeit, da er bei uns ist, hat er noch nicht gelächelt und keinen Ton gesprochen, was für uns beide beständiger Grund zur Sorge ist.
    “Mehr oder weniger.”
    “Wieso?” Sie dreht den Kopf zu mir. “Was ist passiert?”
    Ich zögere, da ich in Gegenwart des Jungen nicht darüber reden möchte. “Wir sahen ein paar … Deutsche.” Ich sehe zu Łukasz. “Es hat uns sehr mitgenommen, aber sie schienen uns gar nicht zu bemerken.”
    “Gut. Hast du auf dem Markt alles bekommen?”
    Ich schüttele den Kopf. “Nur ein paar Sachen”, sage ich und hebe den Korb leicht an. “Aber nicht so viel, wie ich gehofft habe.”
    “Das ist nicht schlimm, wir kommen schon über die Runden. Ich war gerade damit beschäftigt, den Garten umzugraben, damit wir nächsten Monat aussäen können.” Wortlos folge ich Krysia ins Haus und wundere mich einmal mehr über ihre Anmut und Kraft. In der Art, wie sie vor mir hergeht, wie jede ihrer wohl kontrollierten Bewegungen von Entschlossenheit zeugt, liegt eine Unbeirrbarkeit, die mich an meinen Mann erinnert.
    Krysia nimmt mir den Korb aus der Hand und packt meine Einkäufe aus. Ich schlendere unterdessen in den Salon. Seit zwei Wochen lebe ich nun hier, und trotzdem erstarre ich immer wieder in Ehrfurcht, wenn ich die ausladenden Möbel und die wundervollen Kunstwerke sehe, die jede Wand schmücken. Am Flügel vorbei gehe ich zum Kamin. Auf dem Sims stehen drei gerahmte Fotos. Eines zeigt Marcin, Krysias verstorbenen Ehemann, wie er im Frack dasitzt, vor sich sein Cello. Auf einem anderen ist Jakub als Kind zu sehen, wie er an einem See spielt. Das dritte Foto nehme ich in die Hand, es zeigt Jakub und mich am Tag unserer Hochzeit. Wir stehen auf den Stufen vor dem Haus der Familie Bau in der ulica Grodzka, Jakub in einem dunklen Anzug, ich in dem bis zu den Knöcheln reichenden Hochzeitskleid aus weißem
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