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Der König Der Komödianten: Historischer Roman

Titel: Der König Der Komödianten: Historischer Roman
Autoren: Charlotte Thomas
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Verwandtschaft keine anderen Angehörigen mehr hatte, war er zugleich meine ganze Familie und somit der Mensch, um den sich mein Leben von Beginn an gedreht hatte.
    Alles, was ich je an Wissen verinnerlicht hatte, kam von ihm – von einigen geheimen Kleinigkeiten abgesehen, die ich mir aus gewissen anstößigen Zeichnungen angeeignet hatte, welche Ernesto unter seiner Matratze versteckte –, ob es nun um das Einmaleins ging oder darum, wie man einen Pflug durchs Feld zog und ein Huhn köpfte.
    Onkel Vittore hatte stets den Standpunkt vertreten, ein ordentlicher und aufrechter Gutsherr müsse alles lernen, was ihm nützte, und so hatte er mich von klein auf unterrichtet, nicht nur bei der Feldarbeit und beim Versorgen des Viehs, sondern auch am Lesepult. Er hatte mich Rechnen und Schreiben gelehrt, desgleichen Griechisch und Latein, hatte mich mit Pythagoras und dem Liber Abacci ebenso vertraut gemacht wie mit Platon, Plinius und einigen anderen Geistesgrößen. In unserer Bibliothek gab es bestimmt an die hundert Bücher, und ich hatte sie alle gelesen. Überdies hatte er mich im Reiten und Fechten unterwiesen, auch wenn das Pferd eine uralte Mähre und das Schwert nur aus Holz war.
    »Eines Tages wirst du all diese Fertigkeiten gut gebrauchen können, Marco«, hatte er zuweilen erklärt. Wann genau das sein würde, hatte er freilich nie gesagt, weshalb ich ihn im Laufe des letzten Jahres häufiger gefragt hatte, ob es wohl bald wieder Krieg geben würde. Zum bäuerlichen Leben fehlte mir die innere Überzeugung. Was mit Euklid und Sokrates anzufangenwar, erschloss sich mir ebenfalls nicht auf Anhieb, wohl aber der Nutzen von Ross und Waffe: Ich war wild entschlossen, zur Kavallerie zu gehen und dort meinen Mann zu stehen. Nicht erst seit dem Studium der Schriften römischer Herrscher wusste ich, dass kaum etwas dem Edlen besser ansteht, als tapfer zu Felde zu ziehen. Oder vielleicht auch, zur See zu fahren. Die ruhmreiche Schlacht von Lepanto hatte ein paar Jahre vor meiner Geburt stattgefunden, war jedoch immer noch in aller Munde, und ich stellte mir häufig vor, auf dem Geschützdeck einer gewaltigen Kriegsgaleere zu stehen und Kanonen auf die Osmanen abzufeuern.
    Über solcherlei Ansinnen war Onkel Vittore stets lächelnd hinweggegangen, doch immerhin hatte er einige Wochen zuvor die vielversprechende Bemerkung gemacht, es sei wohl endlich an der Zeit, mich einmal mit in die Stadt zu nehmen. Mit Die Stadt war die Serenissima 2 gemeint. Die prächtigste Metropole des Abendlandes, die Krone europäischer Kultur, kurz: Venedig, der schönste Ort der Welt. Jedenfalls waren das die Worte, die Onkel Vittore zur Beschreibung der Lagunenstadt zu verwenden pflegte. Seitdem war kaum ein Tag vergangen, an dem ich nicht nachgefragt hatte, wann es denn endlich so weit wäre, worauf Onkel Vittore erst in der vergangenen Woche versprochen hatte, dass es zu meinem achtzehnten Geburtstag geschehen solle. Ich brachte kaum genug Geduld auf, die verbleibende Zeit ohne drängende Fragen zu überstehen, und nicht einmal die unverhoffte Möglichkeit, meinen Onkel und Paulina beim Akt zu beobachten, hatte mich von meiner angespannten Vorfreude ablenken können.
    Unselige Parzen fügten es, dass Onkel Vittore fünf Tage vor meinem Geburtstag starb und ich deswegen nicht nur um meine Venedigreise gebracht war, sondern auch darum, wie ein aufrechter Mann an seinem Grab zu stehen: Wegen meinesgebrochenen Beins musste ich auf einem Karren sitzen, auf dem mich Ernesto zum Friedhof beförderte.
    Als wollte der Himmel meine Trauer angemessen unterstreichen, öffnete er während der Bestattung alle Schleusen. Es goss die ganze Zeit über in Strömen, und während Pater Anselmo, der Priester unserer kleinen Gemeinde, am offenen Grab letzte Segensworte sprach, wurde der Regen wasserfallartig. Alle Erschienenen bemühten sich redlich, sich nicht anmerken zu lassen, wie gern sie vor den herabstürzenden Wassermassen geflohen wären. Pater Anselmo redete gegen Ende seiner Ansprache immer schneller, und es drängte sich der Eindruck auf, dass er von seiner vorbereiteten Rede einen großen Teil einfach wegließ, bevor er nach einem hastigen Amen mit klatschnasser Soutane den Rückzug antrat und in der Kirche verschwand. Die übrigen Dörfler nahmen sein Verschwinden zum Anlass, ebenfalls hurtig das Weite zu suchen. Der davonrennende Totengräber rief immerhin über die Schulter zurück, er werde das Grab später zuschaufeln, darüber sollten wir uns
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