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Der König Der Komödianten: Historischer Roman

Titel: Der König Der Komödianten: Historischer Roman
Autoren: Charlotte Thomas
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Einfalls, auf den Balken zu klettern, in der außergewöhnlichen Situation, zum ersten Mal direkt zuschauen zu können.
    »Vittore?«
    In dem Moment machte ich den Fehler, mich zu bewegen. Es war nur ein Drehen des Kopfes, um die Fliege zu verscheuchen, die sich schon zwei Mal auf meine Nase gesetzt hatte, während ich hier oben auf der Lauer lag. Doch die kurze Bewegung reichte, um mich aus dem Gleichgewicht zu bringen,sodass ich beide Arme um den Balken schlingen musste, um nicht abzurutschen oder gar hinabzustürzen. Damit verursachte ich ein Geräusch, das sofort Paulinas Blicke nach oben lenkte.
    Sie schrie auf, als sei ihr ein Höllengeist erschienen, was möglicherweise tatsächlich ihrem ersten Eindruck entsprach, denn ich hatte mir, bevor ich den Balken erklommen hatte, das Gesicht mit Ruß vom Herd geschwärzt, um mich farblich der von jahrzehntelangen Kochdünsten gebeizten Decke anzugleichen.
    »Vittore!«, kreischte Paulina. »Da oben ist jemand!« Gleich darauf hielt sie inne.
    »Marco? Bist du das etwa?« Wieder hob sie an zu schreien, doch diesmal vor Zorn. »Marco! Du Lausebengel! Wieso bist du nicht bei der Feldarbeit!« Sie rüttelte meinen Onkel an der Schulter. »Vittore, geh runter von mir! Der Junge liegt da oben auf dem Balken und schaut uns die ganze Zeit zu! Vittore! Bist du taub?«
    Sie schüttelte ihn heftiger, was dazu führte, dass er gänzlich von ihr herabrutschte – und mit einem dumpfen Geräusch auf den Boden schlug.
    Abermals schrie Paulina auf, diesmal vor Entsetzen, und während ich einen kurzen Blick auf fassförmige weiße Schenkel und die dunkel behaarte Unaussprechlichkeit dazwischen erhaschte, rappelte sie sich vom Tisch hoch.
    »O Gott, Vittore! Vittore! Was ist mit dir?«
    Ihre schrillen Schreie und der Schrecken, der sich meiner beim Anblick meines reglos daliegenden Onkels bemächtigte, brachten mich vollends aus dem Gleichgewicht, und ich rutschte ab. Ich schaffte es zwar noch, mich mit beiden Händen an dem Balken festzuklammern und unter halsbrecherischem Schwingen dort hängen zu bleiben, doch ich sah mich außerstande, wieder hinaufzukommen, um den Rückweg bis zur Wand und von dort aus auf den Schrank anzutreten, von dem aus ich zu Beginn meines Beobachtungsmanövers den Balken erkletterthatte. Es gab folglich nur noch den direkten Weg nach unten. Während ich fieberhaft überlegte, ob ich mich wohl, an dem Balken festhaltend, Stück für Stück bis über den Tisch hangeln konnte, um nicht ganz so tief zu fallen, kippten Paulinas Schreie über, als wollte der Teufel ihre Seele holen.
    »Vittore! Bist du etwa tot ?«
    Meine Hände glitten vom Balken, und einen Lidschlag später landete ich auf den Steinplatten des Küchenbodens. Das hässliche Knacken meines rechten Beins spürte ich mehr, als dass ich es hörte, denn Paulina schrie nun ohne Unterlass. Ich versuchte, aufzustehen und zu meinem Onkel zu gelangen, doch mein Bein knickte unter mir weg. Also benutzte ich nur das andere und hüpfte hinüber zum Tisch, wo Paulina über meinen Onkel gebeugt dastand und wie von Sinnen kreischte.
    »Onkel Vittore?«, stieß ich hervor, auf einem Bein stehend wie ein Storch.
    Er sah mit offenen Augen zu mir hoch, doch sein Blick war leer.
    Von Paulinas Geschrei alarmiert, kam im nächsten Moment der Stallknecht in die Küche gestürzt. Ernesto war schon alt und länger in unseren Diensten, als ich auf der Welt war, und mein hilfloses Entsetzen milderte sich ein wenig bei seinem Erscheinen, denn er schien zu wissen, was zu tun war. Grob schubste er die abrupt verstummende Paulina zur Seite und gab meinem Onkel ein paar Ohrfeigen. »Domine?«, brüllte er. »Domine?«
    Gleich darauf hielt er unvermittelt inne und bekreuzigte sich. Sich zu Paulina umwendend, richtete er sich auf. »Eines ist sicher«, sagte er.
    »Dass er tot ist?«, fragte sie, starr vor Schreck.
    »Nun ja«, meinte Ernesto, als wäre gerade das an dem ganzen Vorfall eher nebensächlich. In seiner pragmatischen Art deutete er auf die offene Hose meines Onkels. »Er starb als glücklicher Mann.«

    An die folgenden Tage erinnerte ich mich später nur lückenhaft, denn ich war wie gelähmt vor Trauer. Onkel Vittore war der einzige Mensch, der mir nahestand, und ich hatte, solange ich denken konnte, mit tiefer Liebe an ihm gehangen. Eigentlich war er gar nicht mein Onkel, sondern nur um zwei Ecken mit mir verwandt, doch da meine Mutter bei meiner Geburt verstorben war und ich nach dem Ableben der übrigen
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