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Der Koenig aller Krankheiten - Krebs, eine Biografie

Der Koenig aller Krankheiten - Krebs, eine Biografie

Titel: Der Koenig aller Krankheiten - Krebs, eine Biografie
Autoren: Mukherjee Siddhartha
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Facharztausbildung waren physisch und emotional zermürbend gewesen, aber die ersten Monate dieses Ausbildungsprogramms in der Onkologie ließen die Erinnerungen daran verblassen, als sei alles Frühere ein Kinderspiel gewesen, der Kindergarten unserer Ausbildung.
    Krebs bestimmte unser ganzes Leben. Er drang in unser Denken ein, er besetzte unsere Erinnerungen, er schlich sich in jedes Gespräch, jede Überlegung ein. Und wenn schon wir als Ärzte uns vom Krebs vereinnahmt fühlten, hatten unsere Patienten den Eindruck, dass die Krankheit ihr Leben regelrecht auslöschte. In Alexander Solschenizyns Roman 3 Krebsstation entdeckt Pawel Nikolajewitsch Rusanow, ein noch junger Mann Mitte vierzig, eine Geschwulst am Hals und wird sofort in die Krebsstation irgendeiner namenlosen Klinik im kalten Norden des Landes eingewiesen. Die Diagnose Krebs – nicht die Krankheit als solche, sondern das bloße Stigma – wird für Rusanow zum Todesurteil. Die Krankheit nimmt ihm seine Identität. Sie steckt ihn in einen Patientenkittel (ein tragikomisches, grausames Kostüm, nicht weniger entwürdigend als Gefängniskleidung) und übernimmt die absolute Kontrolle über alles, was er tut. Die Diagnose Krebs, muss Rusanow erfahren, bedeutet die Inhaftierung in einem grenzenlosen Medizin-Gulag, einem Staat, der noch aggressiver und lähmender ist als der, aus dem er kommt. (Solschenizyn mochte diese absurd totalitäre Krebsklinik als Parallele zu dem absurd totalitären Staat draußen verstanden haben, aber als ich einmal eine Frau mit invasivem Gebärmutterhalskrebs auf diese Parallele ansprach, sagte sie sarkastisch: »Ich habe leider keine Metaphern gebraucht, um dieses Buch zu lesen. Die Krebsstation war wirklich mein Gefängnis, mein totalitäres Regime.«)
    Als Arzt, der den Umgang mit Krebspatienten lernt, bekam ich diese Gefangenschaft nur am Rande zu spüren. Aber selbst an der Peripherie war ich mir seiner Macht bewusst – der gespannten, beharrlichen Anziehungskraft, die alles und jeden in den Bannkreis des Krebses zieht. Ein Kollege, der das Ausbildungsprogramm eben abgeschlossen hatte, nahm mich während meiner ersten Woche beiseite, um mir einen Rat zu geben. »Was wir hier tun, nennt sich Immersivausbildung«, sagte er mit gesenkter Stimme. »Man lernt, indem man in die Praxis eintaucht. Leider meint ›eintauchen‹ in Wirklichkeit ›untertauchen‹. Sieh zu, dass du nicht ertrinkst. Lass dich nicht vollständig vereinnahmen, hab auch noch ein Leben außerhalb der Klinik. Du wirst es brauchen, sonst verschlingt es dich.«
    Aber es war unmöglich, sich nicht vollständig vereinnahmen zu lassen. Auf dem Parkplatz der Klinik, einer kalten, mit Flutlicht ausgeleuchteten Betonfläche, saß ich spätabends, nach der letzten Visite, wie betäubt in meinem Auto und versuchte Ordnung in meine Gedanken zu bringen; das Radio blubberte unbeachtet vor sich hin, während ich mich zwanghaft bemühte, die Ereignisse des Tages zu rekapitulieren. Die Geschichten meiner Patienten gingen mir an die Nieren, die Entscheidungen, die ich getroffen hatte, verfolgten mich. War es sinnvoll, einem sechsundsechzigjährigen Apotheker mit Lungenkrebs, bei dem alle anderen Therapieversuche versagt hatten, noch einmal zu einer Chemotherapie zu raten? War es besser, eine sechsundzwanzigjährige Frau mit Hodgkin-Lymphom mit einer bewährten, wirksamen Medikamentenkombination zu behandeln und damit das Risiko einzugehen, dass sie unfruchtbar wurde, oder sollte man lieber eine Kombination wählen, die kaum erprobt war, aber ihre Fruchtbarkeit vielleicht erhielt? Sollte eine spanischsprachige Mutter dreier Kinder, die an Darmkrebs litt, in eine neue klinische Studie aufgenommen werden, auch wenn sie kaum die formale und verklausulierte Sprache der Einwilligungserklärung verstand?
    »Eingetaucht« in die Klinikroutine und den alltäglichen Umgang mit Krebs, konnte ich die Leben und die Schicksale meiner Patienten nur in grellbunten Details sehen, wie in einem Fernseher mit übersteuertem Kontrast. Ich konnte keinen Schritt zurücktreten, um die größeren Zusammenhänge zu erkennen. Instinktiv war mir bewusst, dass das, was ich erlebte, Teil eines viel umfassenderen Kampfes gegen den Krebs war, dessen Umrisse aber weit außerhalb meiner Wahrnehmung lagen. Wie jeder Anfänger sehnte ich mich danach, die vergangene Geschichte kennenzulernen, und wie jeder Anfänger war ich nicht in der Lage, sie mir vorzustellen.
    Als ich aber aus der seltsamen
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