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Der Koenig aller Krankheiten - Krebs, eine Biografie

Der Koenig aller Krankheiten - Krebs, eine Biografie

Titel: Der Koenig aller Krankheiten - Krebs, eine Biografie
Autoren: Mukherjee Siddhartha
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Trostlosigkeit dieser beiden Ausbildungsjahre wieder auftauchte, stellten sich mir umso drängender die Fragen nach dem größeren Bild: Wie alt ist Krebs? Wann und wo hat unser Kampf gegen ihn angefangen? Oder, wie mich Patienten oft gefragt hatten: Wo stehen wir im »Krieg« gegen den Krebs? Wie sind wir so weit gekommen? Ist ein Ende in Sicht? Ist dieser Krieg überhaupt zu gewinnen?
    Erst nur ein Versuch, Antworten auf diese Fragen zu finden, wuchs das Buch bald darüber hinaus. Ich tauchte in die Geschichte des Krebses ein, um dieser nicht fassbaren Krankheit eine Gestalt zu geben. Ich nutzte die Vergangenheit, um die Gegenwart zu erklären. In der Isolation und der Wut einer sechsunddreißigjährigen Patientin mit Brustkrebs in Stadium III klang ein fernes Echo von Atossa 4 an, der Königin von Persien, die ihre kranke Brust mit Tüchern verbarg und sie schließlich in einem Anfall nihilistischer, aber weitblickender Wut wahrscheinlich von einem Sklaven abschneiden ließ. Der Wunsch einer Patientin, ich solle ihr den von Krebs zerfressenen Magen herausschneiden und dabei »nichts auslassen«, wie sie es formulierte, erinnerte mich an den perfektionistischen Chirurgen William Halsted, der, immer in der Hoffnung, die Heilungschancen zu verbessern, je mehr Gewebe er entfernte, im neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert dem Krebs mit immer umfangreicheren, immer entstellenderen Operationen beikommen wollte.
    Unter diesen medizinischen, kulturellen und metaphorischen Versuchen, den Krebs aufzuhalten, brodelte das biologische Verständnis der Krankheit – ein Verständnis, das sich von einem Jahrzehnt zum anderen oft radikal verändert hat. Krebs ist, wie wir heute wissen, eine Krankheit, die durch das unkontrollierte Wachstum einer einzelnen Zelle entsteht. Das Wachstum wiederum ist eine Folge von Mutationen, von Veränderungen in der DNA speziell solcher Gene, die wucherndes Zellwachstum in Gang setzen. In einer normalen Zelle sind Zellteilung und Zelltod durch effiziente genetische Steuerungsmechanismen reguliert. In einer Krebszelle sind diese Steuerungsmechanismen gestört, und es entsteht eine Zelle, die nicht mehr zu wachsen aufhört.
    Dass dieser scheinbar einfache Mechanismus – unbegrenztes Zellwachstum – der Kern dieser maßlosen, vielgestaltigen Krankheit sein kann, zeugt von der unermesslichen Macht des Zellwachstums. Die Zellteilung ermöglicht uns Organismen zu wachsen, uns anzupassen, zu genesen, uns zu reparieren – also zu leben. Verläuft sie aber verzerrt und ungebremst, so sind es die Krebszellen, die wachsen und gedeihen, sich anpassen, genesen, sich reparieren – sie leben auf Kosten unseres Lebens. Krebszellen können schneller wachsen und sind anpassungsfähiger als gesunde Zellen. Sie sind eine perfektere Version unser selbst.
    Das Geheimnis beim Kampf gegen den Krebs besteht also darin, dass wir dahinterkommen, wie sich diese Mutationen in den dafür anfälligen Zellen verhindern lassen, oder Mittel und Wege finden, die mutierten Zellen zu eliminieren, ohne das normale Wachstum dabei zu beeinträchtigen. Die Kürze dieser Aussage steht in krassem Gegensatz zur Monumentalität der Aufgabe. Bösartiges Wachstum und gesundes Wachstum sind genetisch so eng verwandt, dass ihre Entflechtung eine der größten wissenschaftlichen Herausforderungen der Menschheit sein könnte. Krebs ist unserem Genom eingebaut: Die Gene, die den normalen Zellteilungsmechanismus außer Kontrolle geraten lassen, sind keine Fremdkörper in uns, sondern mutierte, verzerrte Versionen der Gene, die für lebenswichtige Zellfunktionen zuständig sind. Krebs ist ein wesentlicher Bestandteil unserer heutigen Gesellschaft: In dem Maße, wie wir unser Leben als Spezies verlängern, setzen wir unausweichlich auch bösartiges Wachstum in Gang (Mutationen in Krebsgenen nehmen mit dem Alter zu; demnach ist Krebs eine inhärente Begleiterscheinung des Alterns). Wenn wir nach Unsterblichkeit streben, so gilt dasselbe, in pervertiertem Sinn, auch für die Krebszelle.
    Wie genau eine künftige Generation lernen kann, die eng verschlungenen Stränge gesunden und bösartigen Wachstums zu entflechten, bleibt ein Rätsel. (»Das Universum« 5 , pflegte in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts der englische Biologe J. B. S. Haldane zu sagen, »ist nicht nur verrückter, als wir denken, es ist auch verrückter, als wir es uns vorstellen können«: Dasselbe gilt für die Wege der Wissenschaft.) Eines aber ist
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