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Der Koenig aller Krankheiten - Krebs, eine Biografie

Der Koenig aller Krankheiten - Krebs, eine Biografie

Titel: Der Koenig aller Krankheiten - Krebs, eine Biografie
Autoren: Mukherjee Siddhartha
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bald in den Kühlschrank käme.
    Es sind Banalitäten, aus denen sich Carlas Erinnerungen an ihre Diagnose zusammensetzen: die Wanduhr, die Fahrgemeinschaft, die Kinder, ein Röhrchen blasses Blut, eine verpasste Dusche, der Fisch in der Sonne, der alarmierte Tonfall der Stimme am Telefon. Was sie sagte, weiß Carla gar nicht mehr genau, nur der Tonfall ist ihr im Gedächtnis geblieben: »Kommen Sie sofort«, meint sie gehört zu haben, »kommen Sie sofort.«
    Ich erfuhr von Carlas Krankheit am 21. Mai um sieben Uhr morgens in der U-Bahn zwischen Kendall Square und Charles Street in Boston. Der Satz, der auf meinem Piepser flackerte, hatte das Stakkato und die ausdruckslose Wucht eines echten medizinischen Notfalls: Carla Reed/neuer Leukämiefall/14. Stock/ bitte sofort aufsuchen, wenn Sie da sind . Als die Bahn aus dem langen dunklen Tunnel herauskam, standen die gläsernen Türme des Massachusetts General Hospital vor mir, und ich konnte die Fenster im vierzehnten Stock sehen.
    Carla, stellte ich mir vor, saß jetzt allein in einem dieser Krankenzimmer, entsetzlich allein. Draußen auf der Station hatte die übliche Betriebsamkeit eingesetzt, Röhrchen mit Blut wurden in die Labors im zweiten Stock geschickt, Krankenschwestern und Pfleger eilten mit Blutproben hin und her, Assistenzärzte sammelten Daten für die Morgenbesprechung, Alarmsignale piepten, Berichte wurden gefaxt. Irgendwo in den Tiefen des Krankenhauses wurde ein Mikroskop angeknipst, und unter der Linse zeigten sich die Blutkörperchen in Carlas Blut.
    Dass es so ablief, kann ich deshalb mit ziemlicher Sicherheit sagen, weil es, von der Krebsstation ganz oben bis hinunter in den Keller, wo die klinischen Labore sind, immer das ganze Krankenhaus kalt überläuft, wenn ein Patient mit akuter Leukämie eintrifft. Leukämie ist Krebs der weißen Blutkörperchen – Krebs in einer seiner explosivsten und aggressivsten Formen. Eine der Schwestern auf der Station pflegte ihren Patienten zu sagen, dass bei dieser Krankheit »schon ein Schnitt mit einem Blatt Papier ein Notfall« ist.
    Für einen angehenden Onkologen ist Leukämie ebenfalls eine besondere Form von Krebs. Sein rasches Fortschreiten, seine Dramatik, sein atemberaubendes, unerbittliches Wachstum erfordern oft drastische Entscheidungen; es ist furchterregend, unter Leukämie zu leiden, furchterregend, sie zu beobachten, und furchterregend, sie behandeln zu müssen. Der von ihr befallene Körper gerät an seine fragile physiologische Grenze – sämtliche Organe und Systeme, Herz, Lunge, Blut, arbeiten hart am Rand ihrer Leistungsfähigkeit. Die Schwestern setzten mich rasch in Kenntnis: Die Blutuntersuchung bei Carlas Hausärztin hatte eine kritisch geringe Anzahl roter Blutkörperchen ergeben, weniger als ein Drittel des Normalwerts. Und statt gesunder Leukozyten enthielt ihr Blut Millionen großer, bösartiger weißer Blutkörperchen – Blasten, wie sie in der Fachsprache heißen. Als die Hausärztin endlich auf die richtige Diagnose gestoßen war, hatte sie ihre Patientin ins Massachusetts General Hospital eingewiesen.
    Auf dem langen kahlen Gang vor Carlas Zimmer, im antiseptischen Glanz des mit Chlorbleiche gewischten Bodens, ging ich hastig die Liste der Laboruntersuchungen durch, die nun durchgeführt werden mussten, und probte im Geist das Gespräch, das ich mit Carla würde führen müssen. Selbst mein Mitgefühl, erkannte ich mit schlechtem Gewissen, hatte etwas Eingeübtes und Automatisches. Ich war im zehnten Monat meiner Fortbildung in Onkologie, eines intensiven zweijährigen klinischen Programms, mit dem Krebsspezialisten ausgebildet werden, und ich hatte das Gefühl, am tiefsten Punkt angelangt zu sein. In diesen zehn unbeschreiblich bedrückenden und schwierigen Monaten waren mir Dutzende Patienten gestorben, und ich fürchtete, allmählich abzustumpfen gegen den Tod und die Trostlosigkeit – als hätte mich die dauernde emotionale Belastung immunisiert.
    An diesem Krankenhaus waren wir insgesamt sieben junge Ärzte, die an dem Ausbildungsprogramm teilnahmen. Auf dem Papier hatten wir Eindrucksvolles vorzuweisen: Abschlusszeugnisse der medizinischen Fakultäten von fünf verschiedenen Universitäten und von vier Universitätskrankenhäusern, insgesamt sechsundsechzig Jahre medizinischer und wissenschaftlicher Ausbildung, zwölf Doktorate. Nichts davon hatte uns auch nur im Entferntesten auf diese Ausbildung vorbereitet. Medizinstudium, diverse Assistenzzeiten,
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